
Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst
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Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Inhalt Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Bild 5 Bild 6 Ähnlich wie der Begriff der Nachhaltigkeit scheint auch der Begriff der Partizipation immer mehr politisch verwässert und zum Selbstzweck zu werden. Der Architekt Markus Miessen plädiert in seinem Buch The Nightmare of Participation für eine Form der Partizipation, die mit einer politischen und ästhetischen Theorie verbunden ist – eine Koniktpartizipation, eine Verbindung von Partizipation und Agonismus* , in der er ein Potenzial sieht: Es geht darum, Konikte als Chance für Diskussion und Veränderung zu verstehen, anstatt sie zu vermeiden oder zu unterdrücken. Im Interview erklärt er: „Konikt ist für mich jetzt in dem Fall nicht irgendwie negativ belegt, wie etwa ein bewaffneter oder ein physischer Konikt, sondern er ist eine Diskursantwort auf eine Konsenspolitik, die jahrelang gefahren wurde und die in England unter New Labour ihren Höhepunkt hatte und sich dort besonders absurd gezeigt hat.“ In Miessens Erfahrung nutzen Architekturprojekte wie Projekte der Raum- und Stadtplanung Partizipation oft nicht, um Macht demokratisch zu verteilen, sondern um Verantwortung abzugeben und im Nachhinein sagen zu können: Wir haben ja alle gefragt. Dabei bleibt die Frage nach wirklicher Zugänglichkeit, nach einer Abgabe von Autor:innenschaft und Hierarchie oft vernachlässigt. „Wenn zum Beispiel für eine Stadt ein großes neues Projekt geplant ist, in dem sich die Bevölkerung der Stadt mit einbringen kann, werden meistens an Samstagen WorkshopFormate angeboten, wo keiner hinkommen kann. Und dann gibt es diese Runden. Dieses Roundtable-Prinzip fand ich immer ein bisschen schwierig – oder zumindest als einziges Tool schwierig –, weil das für mich auch signalisiert, dass man sich immer noch in diesem Diskurs bendet, dieser ‚Ticking Box Politics‘. Dass versucht wird, Partizipation relativ schnell abzuhandeln als eine Art temporären Möglichkeitsraum, in dem Leute zwar dazukommen, aber es ist im Grunde genommen eine Abendveranstaltung oder eine Gesprächsrunde, nach der sich wieder alle in ihre Realität verabschieden.“ Abseits von einem romantischen Partizipationsbegriff sucht Miessen Ansätze, in denen Kritik produktiv sein kann, in denen Handlungsoptionen und eine interesselose (also nicht auf Eigeninteresse abzielende) gegenseitige Involvierung gefunden werden können. Miessen spricht von einer adisziplinären Praxis, für die er den Begriff des Crossbenching nutzt. Diese ist ein Aufruf dazu, sich nicht herauszuhalten, sondern sich aktiv einzumischen: eine Methode der Zusammenarbeit, in der es unerheblich wird, aus welchen Disziplinen die einzelnen Beteiligten kommen. Einige Ansätze aus dem gleichnamigen Buch sind etwa die Aufnahme von Künstler:innen in Verwaltungsstrukturen, das Sichtbarmachen von Kämpfen in den Bereichen Migration und Antirassismus, das Hinterfragen der weltweiten Verbreitung von Bildern, das Überdenken der Städtebaupolitik, die Erneuerung von bezahlbarem Wohnraum und vieles mehr (Miessen 2016: 70). Miessen besteht dabei darauf, dass auch diese Aufzählung verbessert, umgewandelt, gekapert und in Frage gestellt werden sollte und dass, „wenn man wirklich politisch involviert werden will, die politische Rolle, die man spielen kann, die des einzelnen Individuums ist: man selbst“ (Miessen 2016: 72). Dieses Individuum, das sich politisch einmischt und einbringt, ohne mandatiert zu sein, beschreibt der Autor als einen „uninvited outsider“. „Diese Rolle von dem Außenseiter ist jetzt nicht unbedingt zu verstehen als jemand, der sich explizit und bewusst als Außenseiter platziert, sondern in der Frage, ist man eingeladen oder ist man nicht eingeladen? Ist man mandatiert oder nicht mandatiert? Oder was bedeutet überhaupt, in einer Rolle als Designer ohne Mandat zu agieren? Da geht es auch darum, dass die Projekte darauf aus sind, Verantwortung zu übernehmen.“ In einem ästhetischen Kontext – zu dem auch ästhetische Theorie sowie alle Rollenbeschreibungen wie die von Künstler:innen, Kurator:innen oder Architekt:innen zählen – ist eine Beteiligung an Projekten, und damit auch eine Eigenverantwortlichkeit, nahezu immer gegeben. In einem Umfeld, in dem zunehmend Räume von rechter Seite eingenommen, geschaffen und genutzt werden, stellt sich die Frage, was ästhetische Disziplinen und Praktiken an Gegenentwürfen und Perspektiven herstellen können. Welche Werkzeuge können entwickelt werden, die sich mit Konsens oder Dissens im Sinne einer produktiven Methode zur Entscheidungsndung auseinandersetzen? Miessen interessiert sich hier für den passenden Begriff der Einmischung (Miessen 2020: 73). Dabei geht es ihm um Einmischung an sich, aber ebenso darum, Einmischung von anderen zu ermöglichen. „Für mich war der Begriff der Einmischung deshalb von Interesse, weil er einen Möglichkeitsraum schafft. Man kann endlos lange versuchen, in Raumdiskurse reinzugehen, die bereits existieren, die von Rechten aufgemacht wurden, oder man versucht durch eine Art Gegengewicht andere Räume zu schaffen, die das entweder widerlegen oder die versuchen, andere Möglichkeiten aufzumachen. Da sieht man auch ganz gut, wie begrenzt die Architektur in ihrer Möglichkeit ist, direkt zu agieren oder auch schnell zu agieren. Architektur ist grundsätzlich ein sehr langsames Metier. Wenn man von wirklich gebauter Umwelt spricht, also Architektur als begrenzte, gebaute Umwelt, dann sind das oft Zeitspannen von drei bis fünf Jahren, in denen ein Projekt umgesetzt wird.“ So kann klassische Architektur einer Konjunktur rechter Räume nur wenig oder nur sehr langsam etwas entgegensetzen, während eine kritische Raumpraxis, die auf eine schnell umsetzbare Einmischung und die Einrichtung einer Horizontalität aus ist, effektiver darin ist, Diskursräume und neue Möglichkeiten der Zusammenkunft zu schaffen. Oder eben auch bestehende Strukturen zu kritisieren und zurückzubauen: „Das ist ein Thema im Diskurs über rechte Räume, das sehr wichtig ist, glaube ich, dass man es schafft, diese Thresholds und diese Punkte abzubauen, wo du das Gefühl hast, dass du als Außenstehender erst mal einen bestimmten Punkt überwinden musst, um dich irgendwie einbringen zu können. Und eigentlich ist diese Schwelle normalerweise auch nicht existent oder zumindest nicht hoch. Das sind ja oft psychische Barrieren.“ So bedeutet Einmischung in einem aktuellen Projekt im NS-Dokumentationszentrum München, an dem das Studio Miessen beteiligt ist, dass es nicht nur einen Nachdenk- und Kommunikationsprozess gibt, sondern dass gemeinsam mit der derzeitigen Direktorin Mirjam Zadoff überlegt wird, was es für Möglichkeiten gibt, die Institution neu zu denken. Beispielsweise widerspricht das Design des Eingangsbereichs laut Miessen dem, wofür dieses Haus stehen soll. „Also es soll ja ein Ort der Vermittlung, des Austausches und natürlich auch der Übermittlung von historischem Wissen und historischen Fakten sein, aber so wie das in der Vergangenheit da stattgefunden hat, war das extrem statisch und kam daher belehrend rüber, aber ohne dass irgendein Austausch stattgefunden hat. Das Projekt hatte irgendwann den Working Title Open Doors. Da ging es dann zum Beispiel auch darum, was ich eigentlich für einen ersten Eindruck bei den Besuchenden produziere. Wenn ich eine Institution betrete, in der ich erst mal einzeln durch eine gesicherte Drehtür durchgehen muss, nur um dann in einem Foyer anzukommen, in dem ein total abweisender Rezeptionstresen steht, der mich an eine Ästhetik von Banklialen in den späten Achtzigern erinnert, an dem man mit einer Person hinter Panzerglas durch ein Mikro spricht, ist das nicht gerade niedrigschwellig oder einladend. Und dann ging ein sehr langsamer Prozess los, von zwei Jahren, wo wir im Austausch mit den Architekten, die dieses Haus gebaut haben, immer wieder versucht haben herauszunden, wie man teilweise die Sachen rückbauen kann, wie können die auch ihre Autorenschaft aufgeben, damit wir da interagieren können.“ Das Ausstellungsprojekt eröffnet zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2025 in München. Neben einer diskursiven Möbelarchitektur entstehen eine Vermittlungsetage und verschiedene Formate, die Besucher:innen einbeziehen sollen. In einem weiteren aktuellen Projekt Miessens, den Esch Clinics in Luxemburg, arbeitet das Studio Miessen an konkreten Fragestellungen zur Demokratie und der Zukunft der Stadt. Im Zentrum steht, wie politische Entscheidungsstrukturen konkret verändert werden können und wie eine Zusammenarbeit mit dem politischen Mittelbau funktionieren kann, die über eine Legislaturperiode hinausgeht. Hier liegt ein Fokus auf städtischer Administration, also auf Strukturen, die unmittelbar Entscheidungen umsetzen können. „Da geht es im Grunde genommen darum, über die nächsten drei Jahre Fragen zu Demokratie und Urban Commons zu stellen. Wir haben als Teil des Projekts ein Residency-Programm gegründet, in dem wir über den gesamten Zeitraum mit 65 Akteurinnen und Akteuren aus diversen Feldern und Disziplinen zusammenarbeiten, die wir nach Esch einladen, um mit uns in Gesprächsformaten an konkreten Fragestellungen und Unterprojekten zu arbeiten. Das eigentliche Projekt, an dem wir mit den Esch Clinics arbeiten, ist ein Set of Policy Recommendations, das im Winter 2027 der Politik auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene übergeben wird. Und um zu verhindern, dass die Recommendations einfach in der Schublade verschwinden, machen wir vorher über ein halbes Jahr lang im öffentlichen Raum in Luxemburg eine politische Kampagne, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt und die eine Awareness in der Öffentlichkeit schafft, damit sie medial so präsent sind, dass man sie von politischer Seite nicht ignorieren kann. Das Projekt ist dahingehend horizontal, dass die Öffentlichkeit von Anfang an sehr stark involviert ist.“ In der Fußgängerzone von Esch wurde hierfür ein Satellit gegründet, der als Mischung aus Laden, Lokal, Büro und Diskursraum fungiert, in dem verschiedene Austauschformate stattnden. „Viele von den Akteuren und Akteurinnen, mit denen wir in dem Projekt zusammenarbeiten, arbeiten dann auch an konkreten Projekten mit Gruppen aus der Öffentlichkeit und Stakeholdern in Luxemburg zusammen. Und in diesem Projekt [Democracy Next] arbeiten sie zum Beispiel über zwei Jahre an der Umsetzung von Strukturwandel innerhalb der Verwaltung der Stadt, wo dann eine permanente Citizen Assembly (Bürger:innenversammlung) eingeführt wird. Das ist eigentlich das Projekt, das am meisten Vorarbeit gebraucht hat. Da sind wir schon seit mehr als zwei Jahren dran. Vor allem auf der politischen Ebene habe ich da ein Jahr lang Klinken geputzt und geschaut, dass wir so eine Art Grundstimmung herstellen, damit die politisch Verantwortlichen überhaupt bereit sind, so ein Projekt machen zu wollen. Denn das bedeutet für sie auch, dass sie relativ viel Macht abgeben.“ Diese Citizen Assembly soll langfristig in die Stadtpolitik eingeschrieben werden und so auch Teil des Verwaltungsapparates werden. Die daran beteiligten Personen werden ausgelost und für ihr Engagement, ihr Einmischen und ihr Sicheinbringen kompensiert. „Was ein großes Problem ist und ein Grund, warum diese Strukturen, zum Beispiel unter Tony Blair, nicht funktioniert haben, ist, dass die Leute, die Partizipation als politisches Tool benutzen, dies in dem Wissen tun, dass viele Leute sich gar nicht einbringen können. Wenn es jetzt zum Beispiel einen offenen runden Tisch am Samstagnachmittag gibt, wo gibt es da eine Kinderbetreuung, wie kriegen arbeitende Personen, die von Montag bis Freitag im Büro sitzen, bei denen Samstag der Tag ist, an dem sie alles organisieren müssen, wie kriegen die so etwas überhaupt unter? Nämlich nicht. Und unter der Woche schon mal gar nicht. Das heißt, da sind ökonomische Aspekte und Fragen von Care äußerst wichtig.“ Das alles sind Punkte, die zusammengebracht werden müssen, um ein Design und damit eine Situation zu kreieren, in der es wirklich eine horizontale Möglichkeit der Einmischung geben kann. „Ob die dann tatsächlich wahrgenommen wird, ist natürlich noch mal eine andere Frage. Wie kriegt man es hin, dass sich zum Beispiel wohnungslose Personen auch angesprochen fühlen? Denn bei diesen Sortition-Prozessen (Auslosungsprozessen) ist es so, dass alle Bürger:innen der Stadt ganz am Anfang zunächst eine Einladung bekommen, in der sie angeben können, ob sie grundsätzlich daran interessiert sind, daran teilzunehmen. Und die erhältst du natürlich normalerweise nur, wenn du gemeldet bist, weil sie an deine Postadresse kommt.“ Ergo ist auch die Berücksichtigung von Personen, die postalisch nicht registriert sind, eine Entscheidung, die im Design eine Rolle spielen muss. Markus Miessen is an architect, writer, and Professor of Urban Regeneration at UniLu, where he holds the Chair of the City of Esch. Miessen has previously taught at the AA, The Berlage, Städelschule, USC LA, and has been a Harvard Fellow. His work revolves around questions of critical spatial practice, institution building, and spatial politics. As a spatial consultant, he currently works with The Munich Documentation Center for the History of National Socialism. Amongst many other books and writings, Miessen is the author of “The Nightmare of Participation” and “Crossbenching”. Since 2025, he is also the Dean’s Visiting Professor at Columbia GSAPP, New York. https://studiomiessen.com/ https://culturesofassembly.org/ https://www.nsdoku.de/open-doors https://www.sternberg-press.com/product/agonistic-assemblies/ https://glean.art/articles/agnostic-assemblies Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. Literatur Miessen, Markus, 2012. Albtraum Partizipation. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, 2016. Crossbenching. Berlin: Merve Verlag Miessen, Markus, Einleitung, 2020. In: Markus Miessen, Zoë Ritts (Hrsg.), Para-Plattformen, S. 72–74. Leipzig: Merve Verlag * Der Mouffe’sche Agonismus ist eine Theorie, die die potenziell positiven Aspekte von Konikten betont. 01 Anker 001
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Ästhetischer Katalog der Vergangenheit – Zeug:innenschaft und Zeitgeschichte bei Henrike Naumann Lena Götzinger & Benno Hauswaldt im Gespräch mit Henrike Naumann Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Ästhetischer Katalog der Vergangenheit – Zeug:innenschaft und Zeitgeschichte bei Henrike Naumann Lena Götzinger & Benno Hauswaldt im Gespräch mit Henrike Naumann Inhalt Henrike Naumann, Triangular Stories © Stefan Haehnel, 2012 Henrike Naumann, Triangular Stories © Stefan Haehnel, 2012 Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg © Monika Runge, 2021 Henrike Naumann, Tag X aus der Ausstellung Innere Sicherheit im Bundestag. © Sebastian Eggler, 2024 Ich habe mich immer für Zeitgeschichte interessiert, also für den Teil der Geschichte, zu dem man noch Zeitzeugen befragen kann. Indem ich mit verschiedenen Menschen spreche, ergibt sich nicht eine große Erzählung, sondern es entstehen viele unterschiedliche Bilder des gleichen Moments. Diese vielleicht auch wider-sprüchlichen Erzählungen einer gerade erst vergangenen Geschichte sind das, was mich interessiert, und das, wonach ich suche“, sagt Henrike Naumann über ihre künstlerische Auseinandersetzung mit historischen Inhalten. Die Künstlerin, die über das Theater zur Kunst gekommen ist, arbeitet mit gefundenen Objekten, Gegenständen, Interieur und Szenografie, um sich in dokumentarischen Formen mit Geschichte auseinanderzusetzen. Sie selbst wuchs in Zwickau auf und stellte sich früh die Frage: „Was bedeutet es, aus einer Stadt zu kommen, wo Terroristen im Untergrund gelebt haben, während sie Morde begingen? Und was bedeutet es zukünftig, in diese Stadt zu fahren und zu wissen, dass die Unterstützer alle noch da sind? Diese Auseinander-setzung mit der jüngsten Vergangenheit war für mich wichtig, um die Gegenwart aushalten zu können, aber auch, um mir eine Zukunft wieder vorstellen zu können. So war es beispielsweise auch bei meiner Diplomarbeit zum NSU-Komplex. Ich habe an dem Tag, an dem Beate Zschäpe das Haus, in dem ihre Wohnung lag, anzündete, angefangen, an dem Projekt zu arbeiten“, berichtet Naumann. Für die Arbeit mit dem Titel Triangular Stories bildete sie Zschäpes Wohnzimmer nach und erinnert sich: „Dafür wollte ich alles genau dokumentieren und so abbilden, wie es war. Im Prozess und als die Installation fertig war, habe ich aber gesehen, dass es trotzdem immer eine künstlerische Interpretation ist und dass das auch okay ist. Also dass ich die Realität nicht verkläre, sondern jede Geste eigentlich schon eine Interpretation ist und bleiben wird.“ Damals sei ihr klar geworden, dass fiktionale und dokumentarische Elemente zusammenhängen: Wenn sie gefundene Objekte, die eine Beziehung zum Dokumentarischen innehaben, verändert oder kombiniert, entsteht gleichzeitig etwas Eigenes – und dadurch wird auch Geschichte interpretiert. In Naumanns Augen bilden sich so neue Formen der kritischen Aufarbeitung von Vergangenheit und Erinnerung heraus. „Es geht mir darum, eine Sprache zu entwickeln, die nicht verbal, sondern über Objekte funktioniert, mit denen ich Themen anders adressieren kann. Für jede Arbeit erstelle ich eine Art Formen-lexikon oder Alphabet bestimmter Farben, Oberflächen und Materialien, die für mich auf den spezifischen Kontext, beispielsweise Interior Design im Dritten Reich, verweisen. Ich habe dann einen ästhetischen Katalog, nach dem ich Objekte sammle und sie im Raum zu einer Arbeit zusammensetze. Alltagsobjekte und auch Möbel, die häufig einfach übrig waren und auf der Straße standen, waren für mich dabei von Anfang an wichtige Artefakte, anhand derer ich über unsere Gesellschaft sprechen kann. Ich habe sie immer schon als Objekte ernst genommen, die Träger von politischen Erinnerungen oder Botschaften sind. Durch diese Gegenstände lassen sich auch Themen näherbringen, die sonst nicht in unserem Alltag statt-finden, etwa Einblicke in die Reichsbürgerbewegung oder Prozesse der Radikalisierung“, schildert die Künstlerin. So werden Rezipierende einbezogen, die über den Umweg des Ästhetischen an politische Fragestellungen herangeführt und dazu aufgefordert werden, eigene Verantwortung zu hinterfragen. Durch die Nahbarkeit der Alltagsgegenstände wird es für die Betrachtenden einerseits einfacher, eine Beziehung zum Objekt aufzubauen, und andererseits schwieriger, sich zu distanzieren und abzugrenzen. Die Installationen zielen nicht direkt darauf ab, ihnen etwas zu vermitteln oder zu erklären, sondern versuchen, sie von ihrer Rolle als passive, nicht involvierte Betrachtende wegzu-bewegen – hin zu einer Involviertheit, die erkennt, dass man Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, und die bestrebt ist, die Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient:in abzubauen. Im Laufe ihrer Beschäftigung mit historischen Inhalten vergrößerte sich die zeitliche Distanz zu den von ihr gewählten Themen immer mehr. Um zu verstehen, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart wirkt, hat Henrike Naumann sich immer weiter in der Geschichte zurück-bewegt und die jeweilige Zeitebene als Portal in eine vorausgehende genutzt. „Je weiter man zurückgeht, desto nebliger wird es, desto mehr Interpretation findet statt. Angefangen bei meiner Arbeit zum NSU, musste ich die Neunziger verstehen, um zu begreifen, wie wir im Jahr 2011 gelandet sind. Danach habe ich bemerkt, dass ich mich mit der DDR auseinandersetzen muss, um zu erkennen, worauf die Neunziger aufbauen. Daraus folgte die Beschäftigung mit der BRD und dem, was dort in der Nachkriegszeit parallel passierte, dann der Rückgriff auf die NS-Zeit, um zu verstehen, wie DDR und BRD als Nachfolgestaaten funktionierten. Von da an ging es immer weiter zurück in Zeitebenen, von denen ich dachte, dass ich niemals etwas dazu machen könnte, weil ich niemanden dazu befragen kann. Aber dann wird es eigentlich erst spannend. In meiner Arbeit Ostalgie , die gerade in Harvard zu sehen ist, habe ich mich mit der Steinzeit beschäftigt, über den Blick auf die DDR und BRD in den Neunzigerjahren. Dafür habe ich mir angeschaut, wie das Schulmaterial in der DDR und die Serie Flintstones in den USA die Steinzeit unterschiedlich verhandeln. Sie ist wahrscheinlich das extremste Beispiel für eine Zeitebene, zu der man niemanden mehr befragen kann. Das ist dann totale Interpretation. Und so zeigt sich auch, wie sehr Geschichte und Geschichtsschreibung konstruiert und politisch genutzt werden. So lässt sich beispielsweise aus der DDR-Vorstellung der Steinzeit die marxistisch-leninistische Gesellschaftsordnung erklären. Wenn man sie aus einer Gender-Perspektive betrachtet, wird die Steinzeit dafür genutzt, um anhand von ihr Rollenverteilungen abzulesen, die uns zeigen, wie wir heute natürlicherweise leben sollten. Dadurch wird ersichtlich, wie sehr die frühe Geschichte Interpretationsmasse ist und welch große Rolle die Fiktion dabei spielt.“ 2021 realisierte Naumann eine Arbeit im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg über die Wehrsportgruppen in den Achtzigern. „Das Germanische Nationalmuseum ist ja so ein Monstermuseum, das von der Steinzeit bis heute alles abdecken will. Aber interessanterweise endet die Sammlung in den Achtziger-jahren, als es gebaut wurde. Das heißt, die Gegenwart endet hier in den Achtzigern. Ich fand es spannend zu schauen, was seitdem in Nürnberg passiert ist und wie ich die Sammlung erweitern könnte, mit speziellem Fokus auf die ganzen unerzählten Geschichten von Rechtsterrorismus in Franken und Bayern.“ Dafür beschäftigte sich Naumann mit dem Oktoberfest-Attentat vom 26. September 1980 und der Tatsache, dass Handfragmente als wichtige Beweismittel im Laufe der Ermittlungen verschwanden und bis heute ungeklärt ist, ob es sich wirklich um einen Einzeltäter gehandelt hat. „Diese verlorene Hand habe ich dann mit Dürers Händen in Verbindung gebracht, die natürlich auch einen Nürnberg-Bezug haben. Über eBayKleinanzeigen sammelte ich viele Wandteppiche, Drucke, Reliefs und Skulpturen, die Dürers Hände abbilden.“ Ein Bild, das so fest im kollektiven Gedächtnis präsent ist, bekommt so eine neue politische Bedeutungsebene. „Ich nutze hier eigentlich etwas, das so alltäglich oder auch schon abgegriffen ist, dass man es gar nicht mehr richtig sieht, um etwas Neues zu erzählen oder eine ungewohnte Verbindung zu einer politischen Geschichte herzustellen. Das ist eigentlich das, was mich am meisten reizt.“ Hier tangiert die Künstlerin oft politische Themen, die „unattraktiv“ sind und häufig nicht auf Anhieb ernst genommen werden. So beschäftigte sich Naumann seit 2013 mit der Reichsbürgerbewegung – in einer Zeit, in der es schwierig war, dafür Interesse zu schaffen. „Wenn ich gesagt habe, ich will eine Arbeit dazu machen, war das immer irgendwie so nischig und randständig und auch irgendwie witzig.“ [Bild 4]Naumann ist überzeugt, dass trotz einer vermeintlichen Komik, die das Thema und die Ästhetik innehaben, die Reichsbürger ernst zu nehmen sind. Ebenso gefährlich sei es, eine Bewegung zu verharmlosen, nur weil sie an UFOs und andere absurde Mythologien glaubt. „Wie kann ich als Künstlerin für eine Übersetzungsleistung sorgen, die vermittelt, wie ernst das ist, dass das real existiert und passiert und dass das auch uns alle betreffen wird?“ Während ein Ernst-nehmen für Henrike Naumann bei der Auswahl und der Behandlung ihrer Themen und Materialien wichtig ist, ist es ebenso relevant für sie, unterschiedliche Rezipierende abzuholen. Dass es eine Zugänglichkeit gibt, die unabhängig davon ist, inwieweit man kunstaffin ist, und die verschiedene Lesarten und Assoziationen zulässt. Damit ist nicht gemeint, dass die Lesart grundlegend ambivalent ist, sondern dass die Arbeiten einladen mitzudiskutieren, auch ohne dass man weitreichendes Vorwissen mitbringen muss. „Also eigentlich war auch mein Weg zur Kunst über Theater und Film ein Suchen nach einem Ort, wo eine aktive Auseinandersetzung stattfinden kann. Indem man nicht in einem dunklen Zuschauer-raum sitzt und sich nur etwas ansieht, sondern indem man wirklich aktiv Teil von einem Raumgefüge ist, in dem es hell ist, in dem man mit drin ist, in dem man auch mit agiert und wo ein Ort geschaffen werden kann, an dem Gespräche möglich sind, die sonst gesellschaftlich nicht stattfinden würden.“ Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau (DDR) geboren und reflektiert gesellschaftspolitische Probleme auf der Ebene von Design und Interieur und erkundet das Reibungsverhältnis entgegengesetzter politischer Meinungen im Umgang mit Geschmack und persönlicher Alltagsästhetik. Henrike Naumann ist Stipendiatin des Berliner Programm Künstlerische Forschung 2024/25. https://henrikenaumann.com/ Lena Götzinger , geboren 1999 in Wolfsburg, studiert Freie Kunst bei Frances Scholz sowie Kunstvermittlung bei Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Benno Hauswaldt , geboren 1998 in München, absolviert nach dem Diplom in Freier Kunst den Master-Studiengang Kunstwissenschaften. 01
- appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst | Kunstvermittlung
appropriate! Kritische Vermittlung, Soziale Praxis und Theoriebildung Issue 6│ Antifaschismus | Frühjahr 2025 Issue 6 If you want to fight fascism you need to stop finding it everywhere. Dmitry Vilensky Editorial Issue 6 Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Ästhetischer Katalog der Vergangenheit Lena Götzinger & Benno Hauswaldt im Gespräch mit Henrike Naumann Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung Lena Götzinger im Gespräch mit Saba-Nur Cheema Partizipation und Agonismus Benno Hauswaldt im Gespräch mit Markus Miessen Viral gehen und vergehen Elena Korowin Sprache ist mächtig. Und Macht bedeutet Verantwortung Buchrezension von Nastasia Schmidt Fossilis – durch Graben gewonnen Linn Bergmann Defekte Debatten und ein Piefke in Wien Buchrezension von Moriz Hertel Modulare Skulptur für Demokratie und gegen Faschismus Daphne Schüttkemper Issue6 _Reihe 1 Issue 6_reihe 2 issue 6_reihe 3 issue 6_reihe 4 issue 6 reihe 5 issue 6 reihe6 Anker 3 Anker 4 Issue 5│ Klimanotstand | Frühjahr 2024 Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart Ursula Ströbele Editorial Issue 5 Lena Götzinger, Martin Krenn Farewell to Wetland Genady Arkhipau in conversation with Rita Macedo Grüne Institution Hye Hyun Kim und Paul-Can Atlama im Gespräch mit Christoph Platz-Gallus Über Kunst und Klimaaktivismus Lena Götzinger im Gespräch mit Oliver Ressler Was haben Äpfel mit Kunst und dem Klimawandel zu tun? Selin Aksu, Anika Ammermann und Joris Baumann im Gespräch mit Antje Majewski Ein Plädoyer für Fiktion „Roadside Picnics – Encounters with the Uncanny“ Buchrezension von Benno Hauswaldt SAVING DEMOCRACY. Teilhaben, Demokratisieren und Umverteilen Ein Kunstprojekt untersucht den aktuellen Zustand der Demokratie Rezension von Anna Maria Niemann Kann Kunst demokratische Räume schaffen? Buchrezension von Sarah Hegenbart Artistic Resistance: Lithuanian Installation Sheds Light on Ecological Warfare in Ukraine Pinar Doğantekin Von „Natur“ und „Kultur“ Sam Evans Issue 5_Reihe 1 Issue 5_reihe 2 issue 5_reihe 3 issue 5_reihe 4 issue 5 reihe 5 issue 5 reihe6 Anker 3 Anker 4 Anker 1 Anker 17 Issue 4│ Machtverhalten | Winter 2022/2023 Documenta fifteen: an Attempt of Restructuring Power Relations Conversation with Dan Perjovschi Editorial Issue 4 L. Götzinger, P. -A. Knust Rosales, M. Krenn, J. Teubert, M. Wolde Georgis Kunstawards im Machtgefüge Exklusionen nach Geschlecht und Herkunft Johanna Franke, Katrin Hassler Freundschaft oder Dienstleistung? Die sobat-sobat der documenta fifteen Gespräch mit Nick Schamborski Your Relations are of Power Lennart Koch, Esra von Kornatzki Wissen dekolonisieren Isabel Raabe Ever Been Friendzoned by an Institution? Buchrezension von Julika Teubert Kunstvermittlung in der Praxis Maja Zipf Greifbarkeiten – Gedanken zu Ritualen in Kunst und Kunstvermittlung Nicola Feuerhahn „… this has nothing to do with art …” Araba Evelyn Johnston-Arthur Anker 1 Issue 3│ Vermittlung | Frühjahr 2022 Zwischen politischer und kultureller Bildung Gespräch mit Linda Kelch Editorial Issue 3 Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Über die Sinnlichkeit gebrochener Wesen Lynhan Balatbat-Helbock Wurm & Langeweile Karin Schneider Widersprüche wirken lassen Nora Sternfeld Wir werden Dichter:innen Qiao Xuan, Ye Xu Thinking outside the White Cube Dani-Lou Voigt Night Audition Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann Issue 2│ Demokratisierung | Herbst 2021 Sprengel Museum Hannover Gespräch mit Gabriele Sand Kunstvermittlung und künstlerische Praxis Gespräch mit Sebastian Bartel Access All Areas oder Digital Divide? ... Steffen Rudolph Accessibility, Access, and Affordance ... Suzana Milevska „… warum denn liegt denn die da? …“ Eva Sturm Buchbesprechung: vermittlung vermitteln Martin Krenn Kritisch im Netz ... Nick Schamborski Discover(ing) Your Hybrid-Form ... Franziska Peschel Editorial Issue 2 Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert Identitätspolitiken Gespräch mit Lea Susemichel und Jens Kastner Queer Activism in Poland's split society Gespräch mit Bożna Wydrowska Arbeitsbedingungen verbessern? Aber wie! ... Mirl Redmann Video, Quiz und Tanz ... Nanna Lüth Bricking Through Carina Gerke, Constantin Heller, Sarai Meyron, Lily Pellaud and Essi Pellikka Buchbesprechung: Mehrdeutigkeit gestalten ... Julika Teubert Platz_nehmen Andreas Baumgartner, Martin Krenn und Paula Andrea Knust Rosales Anker 12 Editorial Issue 1 Martin Krenn, Julika Teubert PLATZprojekt Hannover Gespräch mit Jeanne-Marie CC Varain Sprengel Museum Hannover Gespräch mit Gabriele Sand Kunstvermittlung und künstlerische Praxis Gespräch mit Sebastian Bartel Access All Areas oder Digital Divide? ... Steffen Rudolph Accessibility, Access, and Affordance ... Suzana Milevska „… warum denn liegt denn die da? …“ Eva Sturm Buchbesprechung: vermittlung vermitteln Martin Krenn Discover(ing) Your Hybrid-Form ... Franziska Peschel Kritisch im Netz ... Nick Schamborski Anker 2 Issue 1 │ Zugänglichkeit | Frühjahr 2021 Issue 6| Frühjahr 2025 Redaktion Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Martin Krenn Lektorat Daniela Kaufmann Judith Kreiner Issue 5 | Frühjahr 2024 Redaktion Lena Götzinger Martin Krenn Lektorat Daniela Kaufmann, Judith Kreiner Issue 4 | Winter 2022/2023 Redaktion Lena Götzinger Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Mahlet Wolde Georgis Lektorat Daniela Kaufmann Issue 3 | Frühjahr 2022 Redaktion Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Issue 2 | Herbst 2021 Redaktion Andreas Baumgartner Paula Andrea Knust Rosales Martin Krenn Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Issue 1 | Frühjahr 2021 Redaktion und Gestaltung Andreas Baumgartner Claas Busche Martin Krenn Marianna Schalbe Julika Teubert Lektorat Daniela Kaufmann Autor:innen Linn Bergmann, Lena Götzinger, Benno Hauswaldt, Moriz Hertel, Elena Korowin, Nastasia Schmidt, Daphne Schüttkemper, Dimitri Vilenski Interviews mit Saba-Nur Cheema, Markus Miessen, Henrike Naumann Webdesign Gordon Endt Autor:innen Selin Aksu Anika Ammermann Genady Arkhipau Paul-Can Atlama Joris Baumann Pinar Doğantekin Sam Evans Lena Götzinger Benno Hauswaldt Sarah Hegenbart Hye Hyun Kim Anna Maria Niemann Ursula Ströbele Interviews mit Christoph Platz-Gallus, Rita Macedo, Antje Majewski, Rita Macedo, Oliver Ressler Webdesign Gordon Endt Autor:innen Anna Darmstädter Nicola Feuerhahn Johanna Franke Lena Götzinger Katrin Hassler Araba Evelyn Johnston-Arthur Lennart Koch Esra von Kornatzki Isabel Raabe Julika Teubert Mahlet Wolde Georgis Maja Zipf Autor:innen Lynhan Balatbat-Helbock Manuel Bendig, Linus Jantzen, Annika Niemann (gemeinsamer Text) Karin Schneider Nora Sternfeld Dani-Lou Voigt Xuan Qiao, Ye Xu (gemeinsamer Text) Autor:innen Andreas Baumgartner, Paula Andrea Knust Rosales und Martin Krenn (gemeinsamer Text) Carina Gerke, Constantin Heller, Sarai Meyron, Lily Pellaud und Essi Pellikka (gemeinsamer Text) Nanna Lüth Mirl Redmann Julika Teubert Interviewberichte Daphne Schüttkemper, Lina Bramkamp, Tom Joris Baumann (gemeinsamer Text) Pinar Dogantekin Autor:innen Martin Krenn Suzana Milevska Franziska Peschel Steffen Rudolph Eva Sturm Nick Schamborski Gesprächsleiter:innen Claas Busche Anna Darmstädter Anna Miethe Marius Raatz Jana Roprecht Julika Teubert Anker 7 Nach oben
- Editorial | Issue 4 | appropriate!
Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Iss ue 4│ Machtverhalten Anker 1 Editorial Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Inhalt Obwohl die Gegenwartskunst nach Autonomie strebt und über weite Strecken liberale Positionen vertritt, ist der globalisierte Kunstbetrieb von den vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht ausgenommen. Sowohl Kunstschaffende, Kunstausstellende, Kunstvermittler:innen, Kunstkritiker:innen als auch Kunstrezipient:innen sind von Neoliberalismus, Diskriminierung und ungleichen ökonomischen Verhältnissen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Innerhalb von und zwischen diesen Gruppen existieren Abhängigkeitsverhältnisse und die Akteur:innen sind gezwungen, sich in diesem komplexen Wechselspiel der Macht zu bewegen und zu positionieren. Entscheidungen über die Verteilung von und den Zugang zu Mitteln im Kunstbetrieb – wie beispielsweise die Vergabe von Stiftungsförderungen und Stipendien, öffentliche und private Ankäufe von Kunst – oder auch die Kunstvermittlung in Bildungsinstitutionen wie Schulen oder Universitäten sind als zentrale Faktoren dafür (mit-)verantwortlich, wer welche Kunst machen kann und welche Kunstpraktiken sich etablieren können. Aus diesem Grund ist es wichtig, in Projekten, Institutionen und Ausstellungssituationen zu reflektieren, wer in welcher Position agiert, und zu fragen, unter welchen Umständen diese Positionen verändert oder erweitert werden sollten. Was passiert, wenn etwa Künstler:innen zu Kurator:innen oder Kunstvermittler:innen/Kurator:innen zu Künstler:innen werden? Welche Möglichkeiten, aber auch welche neuen Machtverhältnisse resultieren daraus? Die Machtanalysen des französischen Philosophen Michel Foucault und der Literatur, die seine Ansätze weiterführt, haben die Konzeptkunst, institutionskritische Kunst und kritische Kunstvermittlung maßgeblich beeinflusst. Macht wird als etwas begriffen, das sich einer eindeutigen Definition entzieht, prozesshaft wirkt und in der Gesellschaft zirkuliert. Das bedeutet: Die Individuen einer Gesellschaft haben nicht einfach mehr oder weniger Macht, sondern sie sind dazu gezwungen, Macht auszuüben und diese zur selben Zeit zu erfahren. Das Machtverhalten einer Person, Gruppe oder Institution ist demnach keine individuelle Praxis mehr, sondern das Produkt und der Ausdruck eines Diskurses. Sprache selbst wird zu einer diskursiven Praxis und jede:r kann in sie und durch sie in vorherrschende Machtverhältnisse eingreifen. In heutigen identitätspolitisch geprägten Diskursen bleibt jedoch die Frage offen, ob ein rein diskursives Machtverständnis tatsächlich ausreichend ist, um politisch etwas zu bewegen. Wenn etwa die konkrete Umverteilung von Macht und ökonomischen Mitteln in einer Institution angestrebt wird, dann müssen die engagierten Akteur:innen die „akademische Komfortzone” verlassen und meist auch ein persönliches Risiko eingehen, damit das jeweilige Ziel erreicht werden kann. Politisches Engagement kann schließlich auch zu einer Verschlechterung der eigenen Situation führen und politische Kämpfe erfordern von den Akteur:innen Durchhaltevermögen. Kämpfe gegen Diskriminierung ziehen sich meist über mehrere Generationen. In diesem Issue des Webjournals „appropriate!“ werden deshalb auch historische Kämpfe gegen Rassismus thematisiert und welche Bedeutung sie für den Aktivismus von heute haben. Insgesamt neun Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema Machtverhalten. Unter anderem wurden zwei Gespräche geführt, die sich mit der documenta fifteen befassen: Die letzte documenta wurde erstmals von einem Kollektiv, der indonesischen Gruppe ruangrupa, kuratiert, die mit lumbung eine neue kuratorische und künstlerische Praxis in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückte. Ziel war es, neue Verteilungsmodelle von Ressourcen einzuführen, die Solidarität zwischen allen beteiligten Künstler:innen zu stärken und Sichtbarkeit für künstlerische Positionen des globalen Südens zu schaffen. Darüber, ob diese Ambitionen erfolgreich umgesetzt wurden und wertvolle Perspektiven für Möglichkeiten der Umgestaltung von Kunstinstitutionen und Machtstrukturen liefern, haben Lena Götzinger und Mahlet Wolde Georgis mit dem Künstler Dan Perjovschi gesprochen, der in seiner eigenen Praxis politische, institutionelle und soziale Machtstrukturen reflektiert und auf der documenta fifteen ausstellte. Anna Darmstädter und Julika Teubert sprachen mit Nick Schamborski, ehemalige:r sobat, über den Konflikt zwischen dem Konzept ruangrupas und den durch die documenta gGmbH vorgegebenen Rahmen- und Arbeitsbedingungen der sobat-sobat genannten Kunstvermittler:innen auf der documenta fifteen. Außerdem sprachen sie darüber, wie sich die organisierten sobat-sobat das lumbung-Konzept aneigneten. Schließlich teilte Nick Schamborski mit uns Gedanken und Ideen dazu, wie sich die Situation für Kunstvermittler:innen auf zukünftigen Ausstellungen verbessern ließe. Im Praxisteil finden sich drei Beiträge, die in unterschiedlichen Kontexten Aspekte von Machtverhalten untersuchen. Maja Zipf beschäftigt sich aus ihrer Erfahrung als Kunstvermittlerin mit der Frage, wie sich nicht nur mittels kritischer Kunstvermittlung der Kunst ästhetisch angenähert werden kann, sondern auch wie existierende, implizite Machtverteilungen im Kunstbetrieb hinterfragt und über die Beschäftigung mit Kunst neu verhandelt werden können. Rituale können für Nicola Feuerhahn Formen von Selbstermächtigung sein. In ihrem Text, der von Ritualen in der Kunst und ihrer Vermittlung handelt, untersucht sie, wie Wertesysteme und Machtzuschreibungen ein Stück weit unabhängig vom strukturell Vorgegebenen gemacht werden können. Lennart Koch und Esra von Konatzki berichten von einer kollaborativen Fotoarbeit und einer in diesem Kontext konzipierten Ausstellung, die in Büroräumen des Kunstvereins Braunschweig zu sehen sein wird. Durch das Einbeziehen von vertraulichem Archivmaterial des Kunstvereins bilden sie einen Dialog zwischen dem Objekt und dem Ort der Ausstellung und untersuchen diese Partner auf ihre jeweiligen Inhalte und Verhältnisse. Das Private und das Öffentliche im Kontext von Professionalität, Arbeitsumfeld und der Diversität von Macht stehen dabei im Fokus ihrer Analyse. Neben einer Besprechung der vor Kurzem von den sobat-sobat der documenta fifteen herausgegebenen Publikation „Ever Been Friendzoned by an Institution?” finden sich in dieser Ausgabe drei Gastbeiträge: von Johanna Franke und Katrin Hassler, von Araba Evelyn Johnston-Arthur sowie von Isabel Raabe. Johanna Franke und Katrin Hassler untersuchen in ihrem gemeinsamen Textbeitrag geschlechts- und herkunftsabhängige Machtverhältnisse im Kunstfeld anhand der empirischen Auswertung von Statistiken zur Vergabe dreier renommierter deutscher Museumspreise. Dabei decken sie nicht nur bemerkenswerte Geschlechterasymmetrien auf, sondern ermitteln außerdem, wie intersektionale Verschränkungen zwischen Geschlecht, Herkunft und dem Aufenthaltsort von Künstler:innen die Vergabe von Kunstpreisen beeinflussen. Die Autorin Araba Evelyn Johnston-Arthur bezieht sich in ihrem Beitrag auf ihre Forschungen zu den antikolonialen Widerständen im postnazistischen Österreich, die antikoloniale Rassismuskritik von PASUA (Pan African Students Union of Austria) und ihrer Vorsitzenden Unokanma Okonjo, die bereits in den frühen 1960er-Jahre aktiv war, und darauf, wie diese Kämpfe ihre eigene Arbeit und aktivistische Praxis bereichern bzw. wie historische antirassistischen Kämpfe in Wien in der Gegenwart weitergeführt werden können. Isabel Raabe schreibt darüber, welche Rolle die Dekolonisierung von Wissen spielt, um kolonial geprägte eurozentristische, weiße Machtstrukturen aufzubrechen. Dabei spricht sie unter anderem über das von ihr mit initiierte Projekt „TALKING OBJECTS – Decolonizing Knowledge“, das nach dem Prinzip der Polyperspektivität von einem Team aus Senegal, Kenia und Deutschland kuratiert wird. Sie erklärt, wie epistemische Gewalt von Museen und Institutionen in Europa ausgeübt wird, und widmet sich der Frage, was es braucht, um die herrschenden Machtverhältnisse zu überwinden. Die Redaktion des Issue 4: Machtverhalten setzt sich zusammen aus: Lena Götzinger, Paula Andrea Knust Rosales, Martin Krenn, Julika Teubert, Mahlet Wolde Georgis Lena Götzinger, geboren 1999 in Wolfsburg, ist seit 2020 Studentin der Freien Kunst sowie der Kunstvermittlung an der HBK Braunschweig und seit Issue 4 Teil der appropriate!-Redaktion. Während ihrer Schulzeit verbrachte sie ein Jahr als Austauschschülerin in den USA und absolvierte nach ihrem Abschluss ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Projekt "Für Demokratie Courage zeigen”. Paula A. Knust Rosales, geboren 1998, studiert Freie Kunst, aktuell in der Klasse der Professorin Natalie Czech sowie Kunstvermittlung bei Professor Martin Krenn. Seit der zweiten Ausgabe des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ ist sie beständiges Mitglied der Redaktion. Martin Krenn, PhD, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig sowie Dozent im Vienna Master of Arts in Applied Human Rights an der Universität für angewandte Kunst Wien. Krenn verschränkt in seiner Praxis Kunst mit sozialem Engagement. Seine dialogischen Vermittlungsprojekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwerpunktmäßig der Rassismuskritik sowie der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Er ist Herausgeber diverser Kunstpublikationen und Autor zahlreicher Texte zu sozialer Kunst und Kunstvermittlung. Julika Teubert, geboren 1995 in Berlin, ist sowohl Künstlerin als auch Kunstvermittlerin und studiert aktuell Freie Kunst bei der Professorin Isabel Nuño de Buen sowie Kunstvermittlung bei Professor PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sie ist Mitbegründerin des „appropriate! – Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst“ und arbeitet seit zwei Jahren als ständiges Redaktionsmitglied und Autorin an der Entwicklung und Umsetzung der bisherigen vier Ausgaben des Webjournals. Mahlet Ketema Wolde Georgis (*1997) ist seit 2019 Studentin der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und studiert Kunstwissenschaft mit dem Nebenfach Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Ihr Ziel ist es, sich auf zeitgenössische afrikanische Kunst zu konzentrieren und mehr darüber zu erfahren, wie Kunst und Kunstinstitutionen dazu beitragen können, Dialoge zwischen verschiedenen Welten einzuführen und Räume für Begegnungen zu schaffen. 1
- Grüne Institution | appropriate!
Ein Gespräch mit Oliver Ressler, Interview von Lena Götzinger Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Grüne Institution Hye Hyun Kim und Paul-Can Atlama im Gespräch mit Christoph Platz-Gallus Inhalt 1 Christoph Platz-Gallus, Direktor des Kunstvereins Hannover 2 Kunstverein Hannover Wenn es um den Klimawandel und Maßnahmen für einen zielführenden Klimaschutz geht, verschiebt sich der Fokus zunehmend von der Kritik individueller Konsumentscheidungen zur Kritik an Systemen und damit einhergehend an Institutionen, die ebenjene Systeme aufrechterhalten oder zumindest von ihnen profitieren. Kunstvereine nehmen in diesen Debatten eine außergewöhnliche Rolle ein. Sie haben meist den Anspruch an sich selbst, gesellschaftlich relevante Themen mit aktuellen Methoden aufzugreifen, und tragen damit zur Meinungsbildung ihrer Besucher:innen bei. Auch wenn sie nicht mit den Institutionen vergleichbar sind, die aktuell effektiven Klimaschutz verhindern, gerät ihr Handeln vermehrt in den öffentlichen Fokus. Dadurch steigt das Verlangen nach einer stärkeren Selbstreflektion der eigenen Klimabilanz genauso wie der in den Ausstellungen behandelten Themen. Christoph Platz-Gallus ist seit 2022 der neue Direktor des Kunstvereins Hannover und somit dafür verantwortlich, die 2023 beschlossene Nachhaltigkeitsstrategie des Kunstvereins Hannover anzuleiten. Bevor es jedoch um konkrete Maßnahmen geht, ist es ihm wichtig, dabei die Geschichte der Kunstvereine nicht aus den Augen zu verlieren. „Also grundsätzlich muss man sagen, dass natürlich Kunstvereine im Grunde einer der wichtigsten kulturellen Erbstränge sind, die die Institutionsgeschichte im deutschsprachigen Gebiet hergibt, weil sie im 19. Jahrhundert als Amateurzirkel gegründet wurden und zunehmend eine sehr deutliche Demokratisierungsrichtung angestoßen haben“, so Platz-Gallus. Er betrachtet die Kunstvereine in ihrem historischen Kontext – als Institutionen, die sich zu Beginn mit ihren bürgerlichen Idealen von selbstorganisierter Bildung gegen die hegemonialen Kräfte des Adels durchsetzten – und sieht darin eine historische Verantwortung. Daraus entspringt der Anspruch des Kunstvereins, als Ort des Diskurses über zeitgenössische Belange zu fungieren und damit weiterhin zu einer Demokratisierung öffentlicher Debatten beizutragen. Während Kunstvereine im 19. Jahrhundert noch klar die Interessen des Bildungsbürgertums vertraten, ist ihr Anspruch heute eine Verschiebung oder eher Erweiterung um unterrepräsentierte und marginalisierte Perspektiven. Kunstvereine nehmen in der Landschaft der Kunstinstitutionen eine besondere Rolle ein. Im Gegensatz zu Museen, die ihre Ausstellungen oftmals bereits drei bis vier Jahre im Voraus planen, haben Ausstellungen beim Kunstverein Hannover nur circa ein Jahr Vorlauf, wodurch es möglich wird, schneller und an vorderster Front auf Entwicklungen zu reagieren und innovativen künstlerischen Praktiken eine Plattform zu bieten. Die Erfahrungen und Einsichten aus der Teilnahme an Großausstellungen wie Biennalen und der documenta offenbaren für Christoph Platz-Gallus die Notwendigkeit einer institutionellen Nachhaltigkeit, die oft in der Fluktuation von Teams und der Diskontinuität von Wissensstrukturen verloren geht. Er skizziert seine Vision einer idealen, grünen Institution, die Nachhaltigkeit, langfristiges Engagement und interdisziplinäre Bildung in den Mittelpunkt stellt. Die ideale Institution zeichnet sich durch eine stabile Struktur aus, die finanzielle Sicherheit und längerfristige Beschäftigungsverhältnisse bietet. Ein Beispiel hierfür ist das Festival Steirischer Herbst. „Ich hatte in Österreich in Graz eine sehr luxuriöse institutionelle Aufgabe für fünf Jahre, wo im Grunde für vier Wochen Festival ein ständiges Team das ganze Jahr angestellt war. [...]Das war im Grunde eine vollständig unterstützte Struktur, weil man in der Lage war, ein bisschen langfristiger zu denken, langfristiger mit Leuten zusammenzuarbeiten“, so Christoph Platz-Gallus. Das beweist, wie ein permanentes Team, das das ganze Jahr über beschäftigt ist, langfristiges Denken und Zusammenarbeit fördert, was in Großausstellungen oft nicht möglich ist. Die Flexibilität, Teams je nach Bedarf zu erweitern, ohne die Kernstruktur zu verlieren, ist entscheidend für die Bewahrung der institutionellen und künstlerischen Nachhaltigkeit. Eine Schlüsselkomponente ist die Förderung langfristiger Arbeitsmodelle mit Künstler:innen. Dies steht im Gegensatz zu der kurzfristigen Natur vieler zeitgenössischer Kunstprojekte und ermöglicht eine tiefere künstlerische Entwicklung und Kooperation. Durch die Schaffung finanzieller Sicherheiten können Künstler:innen eingeladen werden, über längere Zeiträume hinweg mit der Institution zusammenzuarbeiten. „Wenn es die finanzielle Sicherheit und einen Förderrahmen gibt, kann man zum Beispiel auch, das haben wir in Graz über drei Jahre zumindest in einem Projekt gemacht, Künstler:innen einladen, mehrfach zu kommen und mehrfach mit einem dort zu arbeiten und weiterzuentwickeln. Also ein bisschen aus dieser Ökonomie, dieser Gastvorstellung auch rauszukommen. Einmal kurz da, Namen kurz bei E-Flux rausgehauen, ganz kurz kommt die Presse [...] und dann zum Nächsten sozusagen“, erzählt uns Christoph Platz-Gallus und erklärt, dass es eine interessante Strategie für Institutionen und Einrichtungen ist, langfristige Arbeitsmodelle mit Künstler:innen auszuprobieren, die möglicherweise eine nachhaltigere Zusammenarbeit ermöglichen. Diese hohen Ansprüche an sich selbst müssen jedoch stets mit den realen Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten der Kunstvereine in Einklang gebracht werden. Veranstaltungen weiter als ein Jahr im Voraus zu planen, wäre beispielsweise auch gar nicht möglich. „Darüber hinaus geht es eigentlich nicht wirklich, weil die Kapazität auch noch gar nicht da ist. [...] Wir sind schon einer der größeren Kunstvereine mit sieben Stellen, also sechs plus FSJlerin, und dann gibt es ganz viele Freelancer:innen.“ Hinzu kommt eine starke Abhängigkeit der Kunstvereine von der Akquise zusätzlicher Fördergelder. „Die Realität der Non-Profit-Institutionen ist eine wahnsinnige Abhängigkeit, was das Geld betrifft. Also ich muss hundert Prozent des Ausstellungsetats akquirieren. [...] Der Kunstverein ist die älteste Kunstinstitution der Stadt, aber ist in dem Rahmen gefördert, wie andere Vereine auch, dass man vielleicht gerade so wenige engagierte Mitarbeiter:innen beschäftigen und das Licht anschalten kann.“ Es müssen also für den tatsächlichen Betrieb zusätzliche Geldquellen in der Form von Spenden, privaten und öffentlichen Stiftungen und von internationalen Geldgeber:innen organisiert werden. Dadurch ist es laut Platz-Gallus auch nicht möglich, extra Personal für Klimafragen einzustellen: „Wir können uns gar keine Beauftragten innerhalb des Teams leisten, die nur den Footprint und Fragen der Nachhaltigkeit in der Institution checken [...]. Das müssen die Institutionen selbst machen.“ Letzten Endes sind es dann häufiger kleinteilige und weniger öffentlichkeitswirksame Punkte, mit denen man sich auseinandersetzen muss. In einer Pressemitteilung vom 11. Januar 2023 wird beispielsweise unter Anderem auf den Papierverbrauch eingegangen: „Materialien für Werbe- oder Bildungszwecke überhaupt zu drucken, wird in jedem Falle sorgfältig geprüft, um Bedarf und Abfall zu begrenzen. Drucksachen werden, wann immer möglich, auf Recyclingpapier hergestellt, und die Mitglieder haben die Möglichkeit, sich gegen gedruckte Sendungen zu entscheiden. Gleichzeitig sind wir uns des CO2-Fußabdrucks der digitalen Kommunikation bewusst und verpflichten uns, auch in diesem Bereich auf einen nachhaltigen Verbrauch hinzuarbeiten.“ [1 ] Ebenso sollen, wenn möglich, bei Veranstaltungen vegetarische oder vegane Speisen von lokalen oder regionalen Anbieter:innen serviert werden. Wie stringent die eigens auferlegten Maßnahmen eingehalten werden, ist schwierig nachzuvollziehen. Manchmal sparen auch Maßnahmen, die ursprünglich aus anderen Gründen ergriffen wurden – etwa die verstärkte Zusammenarbeit mit lokalen Künster:innen oder Nachbarschaftsprojekten –, Emissionen ein. Ein Beispiel dafür ist die Kollaboration mit dem REAL DANCE Festival Hannover Anfang dieses Jahres, bei dem die beiden Choreograf:innen Tiago Manquinho aus Braunschweig und Manuela Bolegue aus Hannover den Kunstverein als während der Ausstellung begehbaren Proberaum nutzten.[2 ] Diese Projekte beschäftigen sich nicht unmittelbar mit dem Klimaschutz und tragen dennoch dazu bei, Emissionen zu vermeiden. Auf der anderen Seite werden ressourcenintensive Projekte kritischer hinterfragt, als es vor wenigen Jahren noch der Fall war. „[...] einer meiner Vorgänger, Eckhard Schneider [hat] zur Expo 2000 eines der größten stromintensivsten Projekte gemacht, eine Gerhard-März-Installation mit 17.000 Neonröhren [3 ], was eine Art überbordendes Licht-Projekt war, das natürlich eine Setzung ist und auch diese Gigantomanie der monumentalen Kunst so massiv befördert hat. Wir haben innerhalb unseres Bildenden-Kunst-Diskurses da schon seit langer Zeit doch eine andere Richtung,“ sagt Platz-Gallus. Doch die Situation ist nicht bei allen Kunstvereinen gleich. Gerade was die Infrastruktur und den Zustand der Gebäude angeht, gibt es große Diskrepanzen. „Die einen haben 500 Neonröhren aus den 80er-Jahren, die nächsten haben 25 und dafür andere Lichtquellen. Die einen haben Grünstrom, den sie über die Stadt beziehen, und die nächsten sind in einem städtischen Gebäude und sind sowieso an einen Anbieter gebunden. [...] Plötzlich kündigt der Stromanbieter den Vertrag und man ist irgendwie auf einem doppelten Strompreis. Und jetzt versucht man, irgendwie im laufenden Jahr so was auszugleichen. Das ist einfach für viele Institutionen massiv problematisch“, schildert Platz-Gallus. Deshalb würde sich der Dachverband Arbeitsgemeinschaft Deutsche Kunstvereine (ADKV) aktuell für zusätzliche Finanzierung vom Bund einsetzen, um bei Sanierungsmaßnahmen einen gewissen Ausgleich zwischen den Kunstvereinen gewährleisten zu können. Die Ideen sowie die Ambitionen für einen zukunftsweisenden und grünen Kunstverein sind vorhanden. Es gibt auch durchaus schon innovative Projekte, an denen man sich orientieren kann. Häufig läuft die alltägliche Realität dann jedoch wieder auf eine kleinteilige und langwierige Auseinandersetzung mit dem ständigen Finanzierungsbedarf hinaus. Christoph Platz-Gallus lässt sich davon dennoch nicht den Mut nehmen: „Es sind häufig die kleinen Schritte und nicht die großen Sprünge, um sich auf eine nachhaltigere Praxis einzulassen. [...] Deswegen glaube ich auch, dass die kleinen Institutionen, die auch in ihren Förderanträgen gefragt werden: ‚Wie ist denn eure Strategie?‘, durchaus sehr selbstbewusst damit umgehen sollten, was sie denn wirklich alles schon machen.“ [1] https://www.kunstverein-hannover.de/files/01_PM_KVH_Jahrespressekonferenz_2023_2023012.pdf (Zugriff 14.02.2024) [2] https://www.kunstverein-hannover.de/de/kalender/3931-for-real-1 (Zugriff 14.02.2024) [3] https://www.shortcut-film.de/referenzen/kunst/kunst_gerhard_merz/index.php (Zugriff 14.02.2024) Christoph Platz-Gallus , der studierte Kunsthistoriker und vergleichende Literaturwissenschafter, hat international Ausstellungs- und Biennaleformate verschiedener Größenordnungen konzipiert und realisiert. Er arbeitete für die Skulptur Projekte Münster 07, die Kunsthalle Münster sowie den Westfälischen Kunstverein und veröffentlichte die Publikation „Kunstverein im Umbruch“ über die Entwicklung der Institution im Nachkriegsdeutschland. Seit 2022 ist Platz-Gallus der neue Direktor des Kunstvereins Hannover. Hye Hyun Kim , geboren 1991 in Daegu, Südkorea, ist eine Künstlerin, die derzeit an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig unter der Anleitung von Professor Nasan Tur Freie Kunst und bei Prof. PhD Martin Krenn Kunstvermittlung studiert. In ihren Workshops und Projekten zeigt sie überzeugend auf, wie Kunstvermittlung als Brücke zwischen Kunst und Gemeinschaft fungieren kann, indem sie ein Umfeld schafft, das zu Dialog, Reflexion und gemeinsamem Schaffen einlädt. Paul-Can Atlama , geboren 1998 in Köln, absolvierte seinen B.A. Intermedia an der Universität zu Köln und studiert aktuell Freie Kunst in der Fachklasse für Erweiterte Fotografie, Media and Poetics bei Professorin Natalie Czech und Kunstvermittlung bei Prof. PhD Martin Krenn an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sein forschender Blick und die Faszination für Kommunikation und das transformative Potenzial von Medien informieren sowohl seine künstlerische als auch vermittlerische Praxis. Abbildungsverzeichnis (Bilder) 1. Porträt Christoph Platz-Gallus, Foto: Marija M. Kanižaj 2. Kunstverein Hannover, Foto: Andre Germar 01 02 03
- Issue 1 Milevska | appropriate
Issue 1 │ Zugänglichkeit Anker 1 Accessibility, Access, and Affordance: The Amplitude of Participatory Art Suzana Milevska The issue of accessibility has been already addressed in many different discussions about the reasoning behind the phenomenon of participatory art. Accessibility together with inclusivity and democratisation of museums is regarded as one of the most pertinent motivations and goals that prompted the emergence and development of various participatory art practices that aim to induce social change. (Milevska 2016: 19–20) This essay intends to make clearer the links between the issues of accessibility, lack of access and affordance through several theoretical arguments, personal empirical observations and with one example of a participatory art project that focused on accessibility and access. I want to argue that while the hindered accessibility to art institutions is inevitably interwoven within the main rationale of participatory art practices, the lack of access to societal and political means, infrastructures and protocols is even more relevant for the emergence of participatory art, such are representation and participation in decision making via voting, deliberation, and other democratic processes. However, although the ultimate amplitude of such art projects is undisputed, I also aim to challenge the assumption that participatory art could resolve such complex socio-political, economic and gender issues by default. The fact that the aims of participatory art projects are not related to the need to openly discuss and change only art institutions and their limitations, but are also deeply rooted in the need to analyse and criticise the socio-political systemic structures and contexts underlines the challenges, contradictions and obstacles that are generated when participatory artists create participatory art which is supposedly not confined to elitist and professional goals but is yet produced within that very system. (Gregorič and Milevska 2017: 10–27) Let’s now look closer at some of these conundrums starting from Irit Rogoff’s contentious distinction between access and accessibility. Rogoff detected a certain tension between these two while aiming to clarify at least some of these contradictions and she assertively argued in favour of shifting the focus from the term accessibility towards access: For some time now I have struggled with trying to understand how we, in the art world, might be able to shift from a dictated imperative to provide accessibility to displayed culture, to another possibility, one of forging through it, some form of access to the culture at large. (Rogoff 2013: 71) In Rogoff’s view the notion of access is more productive than accessibility. According to her, accessibility rather hinders one of the key motives for trying to involve more people in the arts in the first place – to turn them into active agents in the conversations about art and culture. In part this has followed on from a democratizing impulse of inclusiveness, of trying to find ways in which ‘everyone’, regardless of origins or particularities, might have an entrée into culture. This has gone hand in hand with the politics of representation and the desire to bring into representation those who might have not seen themselves easily mirrored within mainstream or hegemonic culture. (Rogoff 2013: 71) The main reason for the need to focus on access rather than on accessibility according to Rogoff is that accessibility assumes that inclusion and representation necessarily mean ‘this kind of process by which one sees oneself and one’s identity group reflected in culture and therefore taking up a rightful place within it’ (Rogoff 2013: 71) and that it’s concerning the assumption that art needs mediation and translation because these groups seem to be undermined as they are regarded as less knowledgeable of contemporary art by default: Accessibility also assumes that beyond the politics of representation we also have a commitment to translate that which goes on outside the spaces of display directly into them – that we need to ensure, through these strategies of inclusion, translation, representation, and easy access, that our visitor numbers and visitor satisfaction measurements meet the required targets. At the heart of accessibility is the model of a client-based relationship with consumers who know what they want and can evaluate their satisfaction from it. Within such a set of relations there is no room for the unexpected, the speculative, or the seductive. (Rogoff 2013: 71) Therefore, for Rogoff the tension between accessibility and access results from the fact that the ‘first instrumentalizes the second, turning it into a simple system by which you can consume rather than experience’. (Rogoff 2013: 72) For this she blames the ‘nostalgic desire that persists through conventional opposition between creativity and institutions in a classical modernist mode’. (Rogoff 2013: 72) and continues with even harsher criticism of the instrumentalization of accessibility: While there is probably not much harm in such backward-looking approaches, they block any newly forged understanding that we are living out a complex entanglement of practices in which it is almost impossible to chart the boundaries between imagining, making, theorizing, questioning, displaying, being enthralled by, administrating, and translating. (Rogoff 2013: 72) Regardless of how convincingly Rogoff issues her calls for shifting of the paradigms through and within the work in joint experiences of the makers, displayers, and viewers and regardless of how relevant her warnings are that such shifts are entirely lost by overemphasising the calls to accessibility[1 ] , such theoretical and high-brow discussion about the semantic difference between the two terms might sound patronising and tone-deaf. Discussing the issue of accessibility with individuals and communities that struggle to gain not only accessibility but also any visibility, recognition and representation in the art context and cultural institutions would be particularly problematic. This is not the same as saying that Rogoff’s arguments are not compelling and valid for the self-indulgent art world. However, given the current institutional conditionality that is a result of the hierarchical systemic structures and the unchallenged contentious historic, material and narrative heritage all too many individuals and communities are not entitled and/or capable to join end enjoy ‘the unexpected, the speculative, or the seductive’ (Rogoff 2013: 71). Rather even if they joined the discussion could be futile and the tension between accessibility and access cannot occur simply because neither of them exists from the outset.[2 ] In this respect, what is lacking from Rogoff’s generalised analysis is the contextualisation of her critique and how the issue of accessibility differs depending on different ethnic, gender, class or other contexts such as disability, sexuality, citizenship status, etc. A more precise socio-political positioning is needed of such a critical analysis of the emancipatory potentials of art projects that focus on accessibility, and not only in cultural terms, but also in the context of education, art production, decision making of cultural policies, etc. In context of the discussion of the intertwinement and the tensions between accessibility and access due to the neoliberal crisis of identity politics and the limitations that it imposes to accidental encounters and enthusiastic relations necessary for creative artistic processes the acknowledgement of the class, ethnic and gender hierarchies that prevent such reciprocal processes from happening at first place makes Rogoff’s analysis only a one-way street and does not explain the various stages of emancipation of the different groups in need of accessibility and eventually access to art debates and production. Jacques Rancière’s definition of emancipation as an ‘encounter between two heterogeneous processes’ (Rancière 1995: 63) could be helpful for an understanding of the more complex but relevant tension, the one between accessibility and emancipation. The first process for Rancière is the one of governance. It assumes a creation of community that relies on distribution of shares, hierarchies of positions and functions. This is what Rancière calls ‘policy’. The second process is the one of equality, multitude of practices that starts from the assumption that everybody is equal and aims to prove this assumption. (Rancière 1995: 63) Undoubtedly ignoring or undermining the pre-existing societal hierarchies doesn’t help and the access would be futile anyway. Therefore, the acknowledgement that there are many participatory art projects that think together the issues of accessibility and access could help in overcoming the generalised theoretical discussion about the tension between the two. (Tunali 2017: 67-75) Artists as Tania Bruguera, Tanja Ostojić, Tadej Pogačar, Alfred Ulrich, Carmen Papalia, the collectives Chto Delat, Etcetera and Assemble, or the Project Row Houses have all engaged with issues as accessibility and access to art, education, freedom of movement and citizenship in the context of different communities – e. g. refugees, sex-workers, African-Americans or Roma, homeless, etc. However, without any prejudices they also address how different socio-political contexts that determine the hierarchical relations and intersections of gender, ethnicity, sexuality, race, or capability hinder the access to otherwise available contents. Thus, accessibility and access are reciprocal and mutually co-dependent. One of the art projects that in my view addressed both aspects in a subtle and suggestible way was Dan Perjovschi’s Room Drawing from 2006 – a project that was ‘installed’ in the Members’ Room at Tate Modern.[3 ] This particular project is close to my heart not only because of its hands-on approach and potentials to reveal the existing hierarchies in different corners of the art world but also because as a PhD student in London while already being an experienced curator in my home country, North Macedonia, I’ve been experiencing these hierarchies exactly during that period (between 2001 and 2006) – and most directly and paradoxically I’ve found out that my curatorial credentials were not valid in the UK. While the openings back home were free of charge and accessible to everybody (it was the period of a slow transition between socialist and neoliberal economy, so culture was completely non-commercial) and were publicised without any privileges and hidden agendas, in London I could hardly attend any art event.[4 ] Without a special personal invitation, paid institutional membership, or expensive tickets for which the long waiting list was also an obstacle it was simply impossible to attend any official opening of an exhibition, conference, performance, etc. Thus, the unique and successful participatory effect of Perjovschi’s project, at least in my view, consisted exactly of the given opportunity to non-members to enter this elitist and prestigious membership-based ‘club’ (the single annual membership costs £90). For the duration of the exhibition, Perjovschi turned the walls of the Members’ Room into surfaces for his renowned signature ‘murals’ – black and white graffiti consisting of many combined cartoon-like drawings and texts. Perjovschi’s project was a rare opportunity for the artist not only to meet the professionals and members of Tate Modern but also to mingle with the members of the general audience. However, even today all you can read on Tate Modern’s web site about the project is: ‘Treating the walls of Tate Modern’s Members’ Room as a blank canvas, Dan Perjovschi creates a witty, provocative and occasionally cutting social commentary, using drawing to deal with socially relevant issues. His work follows the tradition of political cartoonists’ drawings which link humorous observations of everyday life with ironic commentary.’ (https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006) No mention of the open doors of the otherwise secluded space, nor about the new protocols of communication and relationships that were forged in the course of the project.[5 ] In the centre of the discussion about accessibility and access is the urgent need to challenge the received assumption that art is not obliged to deliver truth, but it rather constructs it. Even when it aspires toward grasping certain truths art’s main role is not necessarily linked to ontology, gnoseology, epistemology, and critical thinking in general. Art rather clings to its hermeneutical, representational and creative role. Such definitions of art imply that neither art aims to reveal some kind of absolute truth, nor it is about delivering truthful facts regarding various world phenomena. The main rationale behind this argument is the paradox stemming from such a definition of art that still prevails in different contexts in contrast to the social-practice based art and the political activist art that dominate the current non-commercial art scene. According to Trenton Merricks’ critique of the theory of ‘Truthmaker’ its assumption that each truth has a truthmaker is problematic because it assumes that ‘for each claim that is true, there is some entity that, by its mere existence, makes that claim true’.[6 ] (Merricks 2007: xiii) For Merricks not each truth depends substantively on being, but rather ‘making true’ means that: x makes p true only if, necessarily, if both x and p exist, then p is true. (Merricks 2007: xiv) Merricks therefore introduces a certain ‘conditional necessitarianism’ and explores the question of whether and how the truth ‘depends on the world’. (Merricks 2007: xiii) In this respect one could conclude that truth exists and can be revealed and accessed as long as the accessibility and access to it exist for all: for the artists, the institutions and for all sorts of different audiences, either individuals or communities that are at various stages of understanding of art, and this is true regardless to how complex and opaque the meaning of art is. For various reasons, art comprises and is capable of powers that are not affordable to the state and political centres of power. I want to argue that truth as a social construct that is controlled by the societal structures of power can and should be tackled by various artistic strategies, but it takes a carefully extrapolated and targeted approach towards the stratified audiences and communities. The amplitude and affordance of art for addressing even the most uncomfortable truths about our society are relational.[7 ] (Gibson 1979: 127) It’s safe to state that the affordance of art depends on accessibility. Unfortunately, the inaccessibility of art is definitely one of these uncomfortable truths and both accessibility and access to art and its institutions should be rethought and reassessed time and again. Participatory art is definitely one of the artistic practices that aims to such reassessment and does it with bigger or lesser success. The current deceptive mechanisms that grind and shape truth on levels that were extremely difficult to anticipate and imagine in the pre-internet and pre-social networks era are mechanisms that are and have been affordable to artists by default. Moreover, by questioning the offered and received truths and by producing new truths and knowledges the participatory art and artistic research are capable of drawing relevant intersections between the ontological, epistemological and gnoseological role of art and thus redefining it. The promise of participatory art is fundamentally based on the need to surpass and overcome this misgiving between the general audience and the art world. However, while on the one hand aiming to open the art institutions towards a more profound involvement of art audiences in the process of artistic practices and productions, on the other hand such tendency towards participation can produce new distinctions and ’elites’ because of the too general invitation to the audiences in different levels of direct involvement without taking into account the multi-layered and stratified audience. Such differentiation of audiences can lead towards developing more diversified art and cultural policies among curators and art administrators but also towards a greater awareness among the ‘elitist’ museum and gallery audiences of the existence of other publics and participants. Yet the issues of access and accessibility remain fundamental for even starting to think the diverse structure of the audience exactly because the accessibility is as complex as the audiences that need the access. Suzana Milevska is a visual culture theorist and curator. Her theoretical and curatorial interests include postcolonial critique of the hegemonic power regimes of representation, gender theory and feminism as well as participatory, collaborative and research-based art practices. Currently she is Principal Investigator at the Politecnico di Milano (TRACES, Horizon 2020). From 2013 to 2015 she was the Endowed Professor for Central and South Eastern European Art Histories at the Academy of Fine Arts Vienna, where she also taught at the Visual Culture Unit of the Technical University. Milevska was Fulbright Senior Research Scholar at the Library of Congress (2004). In 2012, Milevska won the Igor Zabel Award for Culture and Theory. References Gibson, James J., 1979. The Ecological Approach to Visual Perception. Boston: Houghton Mifflin Harcourt Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana, 2017. Inside Out: Critical Art Practices That Challenge the Art System and Its Institutions. In: Gregorič, Alenka and Milevska, Suzana (eds.): Inside-Out Critical Discourses Concerning Institutions. Ljubljana: City Art Gallery Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment. The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017, https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press Milevska, Suzana, 2018. Infelicitous: Participatory Acts on the Neoliberal Stage. In: P/art/icipate: Kulturaktiv gestalten, Vol. 7, October 2016. www.p-art-icipate.net/cms/infelicitous-participatory-acts-on-the-neoliberal-stage, pp. 19-30 (visited 23 March 2021) Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator: Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) Rancière, Jacques, 1995. Politics, Identification and Subjectivization. In: Rajchman, John (ed.): The Identity in Question. New York and London: Routledge Rogoff, Irit, 2013. On Being Serious in the Art World. In: Butt, Gavin and Rogoff, Irit: Visual Cultures as Seriousness. Berlin: StenbergPress Tunalı, Tijen, 2017. The Paradoxical Engagement of Contemporary Art with Activism and Protest. In: Bonham-Carter, Charlotte and Mann, Nicola (eds.): Rhetoric, Social Value and the Arts. But How Does it Work? London: Palgrave McMillan Image above and below: Dan Perjovschi, The Room Drawing, 2006, Members' Room, TATE Modern, London, 25 March-23 June, 2006, Courtesy of the artist Inhalt Endnotes [1] The Art Review published a very positive, but short review of the book ‘Visual Cultures as Seriousness’ that didn’t question the contentiousness of some of Rogoff’s claims: McLean Ferris, Lana, 2014. Visual Cultures as Seriousness by Gavin Butt and Irit Rogoff. In: Art Review. 10 July 2014visited 20.03.2021 https://artreview.com/april-2014-book-review-visual-cultures-as-seriousness-by-gavin-buttirit-rogoff/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [2] Heller, Hannah, 2017. Whiteness and Museum Education. In: Best Practices, Culture, Heritage, & Identity, Educational Environment, The Incluseum - Inclusion | Museums. December 14, 2017 https://incluseum.com/2017/12/14/whiteness-and-museum-education/ (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [3] The short description of the project and a video recording of the talk with the artist are still accessible online: Perjovschi, Dan, 2006. The Room Drawing, curator Maeve Polkinhorn, 25 March-23 June 2006, London, Tate Modern. https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/dan-perjovschi-room-drawing-2006 (visited 23 March 2021) [back to the passage in the text] [4] Perhaps this doesn’t apply to Perjovschi as a native Romanian, but for a completely other reason: The National Museum of Contemporary Art in Bucharest is based in the Palace of the Parliament or People’s Palace – Nicolae Ceausescu’s building that is one of the largest and most guarded and inaccessible museum buildings in the world. [back to the passage in the text] [5] In one of the several emails during the correspondence I had with the artist about this project for this particular essay Perjovschi wrote: ‘Members’ Room is exclusive to the 80.000 members, but they do not come all at once [...] and it's basically a coffee shop (coffee, sandwiches and sweets and champagne) not open for everybody. And here was the deal. I asked and got permission to open the Members’ Room (5th floor I think but not sure) for everybody the whole week (except on Saturday and Sunday when usually it is full because of the splendid terrace). I had to talk with the Tate director of flux of people (can u believe it?) because of opening for the public to the floor (and elevator) reserved usually for members card holders.’ (email from Dan Perjovschi, 26 March 2021) [back to the passage in the text] [6] For a more precise definition of the concept ‘Truthmaker’ as it is defined in philosophy see: Merricks, Trenton, 2007. Truth and Ontology. Oxford: Oxford Clarendon Press. [back to the passage in the text] [7] The concept of affordance in art and culture was coined by James J. Gibson and first appeared in his 1966 book ‘The Senses Considered as Perceptual Systems’. [back to the passage in the text] Anker 2 Anker 3 Anker 4 Anker 5 Anker 6 Anker 7 Anker 8 Anker 9 Anker 10 Anker 11 Anker 12 Anker 13 Anker 14 Anker 15
- SAVING DEMOCRACY | appropriate!
Ein Kunstprojekt untersucht den aktuellen Zustand der Demokratie Rezension von Anna Maria Niemann Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 SAVING DEMOCRACY. Teilhaben, Demokratisieren und Umverteilen - Ein Kunstprojekt untersucht den aktuellen Zustand der Demokratie Rezension von Anna Maria Niemann Inhalt Anmerkung der Redaktion: Da appropriate! ein Journal der Kunstvermittlung der HBK Braunschweig ist, wollen wir hier auch aktuelle Publikationen des Lehrganges vorstellen. Wir haben deshalb Anna Maria Niemann eingeladen als Gastautorin diese Rezension zu verfassen. In der von Martin Krenn herausgegebenen Publikation beleuchtet das Autor:innenensemble nicht nur den komplexen und aktuellen Zustand der Demokratie, sondern skizziert auch – und hier entfaltet sich der wesentliche Anspruch von Saving Democracy – von Partizipation geprägte Handlungsmöglichkeiten zur Stärkung von Demokratie. Ausgangspunkt der Publikation war die theoretisch-wissenschaftliche Auf- und Nachbereitung des Kunstprojektes Enlightening the Parliament . Der inhaltliche Einstieg zum Thema erfolgt mit Dorothea Hilligers Beitrag. Sie überzeugt vor allem mit ihrer Bilanz, in der sie der Kunsthochschule eine Rolle als Verantwortungsträgerin in Sachen Vermittlung von Demokratieverständnis und Reflexions-bereitschaft, insbesondere für Nachwuchskunstschaffende, zuschreibt. Thomas Kaestle beleuchtet in seinen Ausführungen nicht nur das enge Verhältnis von Kunst und Demokratie, sondern legt auch das demokratiefördernde Potenzial von Kunst und spezifisch einer solchen, die im und mit dem öffentlichen Raum arbeitet, dar. Daran anschließend erörtert der Herausgeber Martin Krenn die Kunst von Teilhabe, Demokratisierung und Umverteilung, indem er nicht nur vor dem Krisenzustand der Demokratie warnt, sondern sich die Frage nach der potenziellen Veränderung der Demokratie und dem Anteil der Kunstvermittlung daran stellt. Lukas Kübler, Claus Leggewie und Patrizia Nanz betrachten das Modell von Bürger:innenräten, insbesondere im Kontext demokratischer Innovationen. Dabei attestieren die Autor:innen dem Format des Bürger:innenrats nicht nur auf Kooperations-bereitschaft, Gemeinschaft und Empathie fußende Prinzipien, sondern skizzieren auch das demokratische Potenzial des Modells. Tanja Abou kritisiert in ihrem Beitrag die Politik des Ent-Powerments als Strategie einer klassistischen Gesellschaftsanschauung. Mit Nachdruck zeigt Abou, dass es sich bei der Diskriminierungs-form des Klassismus um strukturelle Menschenfeindlichkeit handelt. Die Autorin fordert zur Erhebung aus diesem kultivierten Ent-powerment eine auf Anerkennung basierende Politik des Empowerments. Im Gespräch mit Martin Krenn diskutiert Aladin El-Mafaalani das auf Migration folgende Phänomen primär stattfindender Öffnungs-prozesse (z. B. Ermöglichung von Teilhabe), die mit gleichzeitigen Schließungstendenzen (z. B. rechtspopulistischen Haltungen) einhergehen. Des Weiteren berichtet El-Mafaalani von dem in seinem Buch Wozu Rassismus? (2021) beschriebenen so-genannten Diskriminierungsparadox und schildert dabei eine soziologische Erkenntnis von wegweisendem Charakter. Er betont außerdem die integrative Kraft von Konflikten und die Dringlichkeit der Etablierung einer neuen Diskursform, die Kontroversen – also das Spannungsfeld von Offenheit und Geschlossenheit – zulässt und damit ihre konstruktive Einstellung vermittelt. Lena Götzinger und Martin Krenn sprechen mit Ruth Wodak über deren Beobachtungen von Ursprung und Konstitution anti-demokratischer Rhetorik(en). Wodak übt Kritik an der auf wirtschaftlichen Profit ausgerichteten Medientaktik die Populist:innen, die der beabsichtigten Generierung von Provokationen eine Plattform in den eigenen Formaten bietet. Besondere Aufmerksamkeit verdient Wodaks Hinweis auf Maß-nahmen zur Partizipationsförderung, wie etwa den Erwerb von Kompetenzen im Bereich einer Critical Literacy , die dazu befähigen, medial konstruierte Narrative aufzudecken. An diese reichhaltigen theoretischen Auseinandersetzungen und richtungsweisenden Gespräche schließt die Dokumentation des Praxisprojektes Enlightening the Parliament an, das aus vier klang- und videokünstlerischen Teilarbeiten besteht. Den Anfang der Projektdokumentation macht die 7-Kanal-Videoprojektion mit Statements von Bürger:innen, Bürger:innenrät:innen und Abgeordneten, die von Lena Götzinger für die vorliegende Publikation zusammengestellt wurden. Das von Studierenden konzipierte Projekt vereint Statements 26 verschiedener Personen zu Demokratie, Demokratisierung, Kunst und Partizipation. Den Initiator:innen ist es nicht nur gelungen, eine große Bandbreite von Perspektiven sicht- und hörbar zu machen, sondern dies auch in einer öffentlichkeitswirksamen und kunstvermittlerisch höchst interessanten Weise umzusetzen. Die Videostatements wurden von Carlotta Oppermann editiert und anschließend auf die Fassade des Niedersächsischen Landtags in Hannover – und damit nicht nur auf ein Zentrum von Demokratie, sondern auch in den zum Innehalten und Partizipieren einladenden öffentlichen Raum – projiziert. Andreas Baumgartner nutzt in seiner 7-Kanal-Videoarbeit (Fragmente des niedersächsischen Landtages) den öffentlichen Raum als Leinwand und kehrt Verborgenes und Vergessenes nach außen, indem er auf die Landtagsfassade Aufnahmen von Maschinenräumen des Gebäudes sowie von Gesichtern ehemaliger Landtagspolitiker:innen projiziert. Auf eine andere Weise widmeten sich auch die Schaffenden des nächsten Werkes –Disembodied Structures – dem Nach-außen-Kehren des Inneren. Lina Bramkamp, Clara Mannot und Paula Andrea Knust Rosales projizieren Bilder der Eingangshalle des Landtages auf dessen Außenfassade und schaffen mit diesem Sichtbarmachen einen künstlerischen Impuls zur Partizipation. Unter dem Titel Vielstimmigkeit platzierten Studierende der Klangkunstklasse der HBK Braunschweig 24 Lautsprecherpaare in den Kronen der Bäume auf dem Landtagsvorplatz und bespielten den Ort mit einst im Landtag geführten und inzwischen archivierten Debatten der niedersächsischen Landespolitiker:innen. Dem Herausgeber von Saving Democracy ist es gelungen, die theoretischen Überlegungen den themengebenden künstlerischen Positionen voranzustellen, ohne dass dabei die in diesen Positionen zum Ausdruck gebrachte künstlerische Gestaltung von Demokratie vorweggenommen wird. Zu diesem Erfolg haben im Wesentlichen die facettenreichen theoretischen Ausführungen des Bandes beigetragen. Besonders bemerkenswert dabei ist die in der Publikation deutlich gewordene Symbiose aus (wissenschaftlicher) Theorie und (künstlerischer) Praxis, die sich in dem kunstvermittlerischen Projekt Enlightening the Parliament manifestiert. Zudem, so sei abschließend festgehalten, regt der Band, der mit seinen umfangreichen Positionen – theoretischer und künstlerischer Art – in sich bereits ein demokratisches Projekt ist, nicht nur zum Mit- und Weiterdenken, sondern zu demokratischer Partizipation an. Anna Niemann ist Kunstwissenschaftlerin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig tätig. In ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit widmet sie sich der Dekonstruktion von Geschlecht und interessiert sich in ihrem laufenden Dissertationsprojekt insbesondere für Codierungen weiblicher Kreativität im Künstlerinnenselbstporträt des späten 18. Jahrhunderts. 01
- Issue 2 Teubert | appropriate
Issue 2 │ Demokratisierung Anker 1 MEHRDEUTIGKEITEN GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik Buchbesprechung von Julika Teubert Ambiguität – was ist das überhaupt? Schon der Titel des im Folgenden vorgestellten Buchs lässt vermuten, dass es sich hierbei um eine Lektüre handelt, die eine gewisse Auseinandersetzung mit bildungssprachlichen Begriffen erfordert. Dem Thema der Ambiguität oder – einfach ausgedrückt – der Mehrdeutigkeit wird von insgesamt 15 Personen aus Kunst, Vermittlung, Kultur- und Politikwissenschaft multiperspektivisch im Kontext der kulturellen und politischen Bildung nachgegangen. Der 298 Seiten und 14 Aufsätze umfassende Band wurde im Sommer 2021 gemeinsam von Ansgar Schnurr, Sabine Dengel, Julia Hagenberg und Linda Kelch im transkript Verlag in der Kategorie Pädagogik herausgegeben. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich aus jeweils drei bis vier Texten zusammensetzen. Allem voran bietet dabei die Einleitung Hintergrundinformationen über eine 2019 stattgefundene Tagung, deren Titel „Ambiguität. Demokratische Haltungen bilden in Kunst und Pädagogik“ nun auch die Publikation prägt. Zudem enthält das Werk eine Erklärung und Einordnung zur Thematik der Ambiguität, um gleichzeitig eine Reihe von Fragen zu stellen, denen sich anschließend in den Gesprächs- und Textbeiträgen gewidmet wird: Wie lässt sich eine offene Haltung gegenüber Uneindeutigkeiten und fremden Eindrücken entwickeln und kräftigen? Wie könnte sich eine solche Haltung in der kulturellen Bildung, wie in der politischen Bildung äußern? Lässt sich eine ambiguitätstolerante Haltung, die in Bezug auf eine spezifische Thematik entstanden ist, auf andere Bereiche übertragen? Die Grundlage des Bandes ist die These, „dass es sowohl für politische Bildung als auch für die Kunstpädagogik gerade unaufgelöste, ambige Situationen sind, die in ihrer Kontroversität das Potenzial haben, bildsam zu sein“, und so die Bildung demokratischer Haltungen fördern. Das Buch beschreibt sich allerdings selbst als paradox in dem Versuch, das Thema der Ambiguität besonders eindeutig und klar erfassen und beschreiben zu wollen. Grundlegend wird die Verbindung von Ambiguität, Kunst und Demokratie folgendermaßen hergestellt: Die Aufgabe der Kunst sei allgemein nicht die, bestehende Überzeugungen zu festigen, sondern zu irritieren und vielfältige Reize zu setzen, die in der Auseinandersetzung mit ihnen in neuen Erfahrungen münden können. Eine Beschäftigung mit Kunst könne so die Erkenntnis fördern, dass Uneindeutiges und Unbekanntes nicht nur aushaltbar, sondern außerdem bereichernd sein können. Die Fähigkeit, mit Ambiguitäten umgehen zu können, lässt sich also als Ambiguitätstoleranz bezeichnen – und dies sei erlernbar. Auch eine demokratische Politik beruht auf Vielfalt und der Pluralität der Gesellschaft. Toleranz für Ambiguität ist somit eine wichtige Eigenschaft einer Demokratie und ihrer Mitglieder. Der Schnittpunkt von freier Kunst und echter Demokratie bestehe darin, dass beide einerseits auf ein ambiguitätstolerantes Umfeld angewiesen seien, um zu wachsen, andererseits seien sie nur frei, echt und plural, wenn sie selbst von Grund auf bereits ambige Züge aufwiesen. Ein erklärtes Ziel der kulturellen und politischen Bildungsarbeit sei es demnach, eine Haltung zu fördern, die in befremdlichen Situationen nicht automatisch ablehnend und abgrenzend reagiert, sondern Vielfalt begrüßt und den Umstand aushalten kann, nicht immer alles einordnen und festlegen zu können. Die Förderung oder Herausbildung von Ambiguitätstoleranz als Teil einer Haltung ist folglich eine demokratische Praxis. Besonders erkenntnisreich waren für mich die Beiträge von Anja Besand, Sabine Dengel und Linda Kelch sowie Katja Hoffmann und Oliver Klaassen. In ihren Texten geht es unter anderem um die Frage, was die politische und die kulturelle Bildungsarbeit voneinander lernen können. Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Aspekt, denn eine politische Positionierung wird im kulturellen Sektor immer relevanter. Außerdem wird das Konzept der Ambiguitätstoleranz kritisch durchleuchtet, was im Sinne der Ambiguität selbst zu einem umfassenderen Bild der Thematik führt. Ein interessanter Aspekt ist auch, dass Ambiguität als künstlerische Strategie eine Schutzfunktion für marginalisierte Personen bieten kann, denn bis heute andauernde diskriminierende Strukturen erfordern vielerorts einen solchen uneindeutigen, mehrdeutigen Kunstraum, der vor Angriffen schützt. Durch ihre zugängliche Wissensvermittlung und verständliche Sprache haben sich für mich Dorothée de Néve, Ulaş Aktaş, Hans-Christoph Koller und Julia Hagenberg hervorgehoben. Ihre Beiträge beschäftigen sich generell mit der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Veränderung; sei es die Bedürftigkeit der Demokratie, sich aktuellen Diskussionen und Aushandlungen zu stellen, oder die der Kunst und Vermittlung, einen positiven Einfluss auf Gesellschaft, Welt- und Selbstverständnis zu nehmen. Dazu passend wird die Frage aufgeworfen, wie Museen ihre Verantwortung als machtvolle Institutionen mit großem Wissenskapital und exklusiven Handlungsspielräumen wahrnehmen sollten. Als Folge dessen muss sich demnach eine kritische Aufarbeitung von Ausstellungspraxis und Sammlungen etablieren. Schlussendlich handelt es sich um ein Fachbuch, das das komplexe Thema der „Ambiguität und Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ aus unterschiedlichsten Blickwinkeln umfassend beleuchtet. Den Herausgeber:innen gelingt es allerdings nicht ganz, ihren in der Einleitung betonten Anspruch, das Thema klar zu vermitteln und zu beschreiben, einzulösen. So ist die Artikelzusammenstellung wie auch die -reihenfolge nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Beispielsweise erscheint mir der Beitrag von Aurora Rodonò als Einstieg in das Thema besonders geeignet, er wurde jedoch als letzter Artikel gereiht. Die Aufteilung des Buchs in vier nummerierte Abschnitte zielt darauf ab, Autor:innen aus verschiedenen Fachbereichen zusammenzubringen, doch es fehlen hilfreiche Kapitelnamen. Die Einleitung selbst ist komplizierter geschrieben als einige Beiträge und wirft die Frage auf, welche Personen die Zielgruppe der Publikation bilden. Eine Empfehlung dieser Lektüre kann ich deshalb nur unter Vorbehalt aussprechen: Sie ist bereichernd und eignet sich gut für eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik, jedoch kann sie bei interessierten Leser:innen, die sich nicht regelmäßig mit bildungssprachlichen Sammelbänden befassen, eine ambige Leseerfahrung mit sich bringen. „MEHRDEUTIGKEIT GESTALTEN Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik“ kann direkt über den transkript Verlag erworben werden und kostet 30 Euro. Inhalt Mehrdeutigkeit gestalten, Foto: Julika Teubert 2021
- Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart
Artikel von Ursula Ströbele Iss ue 5│ Klimanotstand Anker 1 Natur als Versprechen? Pflanzen als skulpturale Elemente in der Architektur der Moderne und Gegenwart Ursula Ströbele Inhalt 1 Charles Eisen, Allegorischer Stich der vitruvianischen Urhütte. Frontispiz zu Marc-Antoine Laugier, Essai sur l’Architecture, Paris: Chez Duchesne 1755 Credits: https://www.e-rara.ch/zut/doi/10.3931 /e-rara-128 2 Bruno Taut, Stiftskirche in Stuttgart, Innenraum , 1904, Pastell auf grauem Papier, AdK, BTA – 10 – 625 Credits: Taut, Bruno, 2007. Natur und Kunst. In: Bruno Taut: Ex Oriente Lux, Die Wirklichkeit einer Idee. Speidel, M., Mann Verlag: Berlin, S. 52 3 Giuseppe Franzoni, Kapitell mit Maiskolben , 1809, Säulenhalle des U.S. Kapitols Credits: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flickr_-_USCapitol_-_Corn_Capital_-_U.S._Capitol_Building.jpg ; Architect of the Capitol 4 C. A. Lebschée, Die Linde zu Peesten , 1850, Tonlithographie, in: Das Album Thurnau – Tafel XXXIII Credits: http://www.landschaftsmuseum.de/Seiten/Heimatpf/Album-Tafel_33.htm 5 Eileen Gray, E1027 , 1929 Credits: Foto: Manuel Bougot/Conservatoire du Littoral 6 Arthur Wichula, Ein Hochstand im Jagd-gebiet mit einer bequemen, gewachsenen Treppe Credits: Wichula, Arthur, 2012. Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend (1926). Packpapier Verlag: Osnabrück, S. 75 7 Frank Llyod Wright, Fallingwater , 1935–1937, Pennsylvania Credits: Photo Courtesy of the Western Pennsylvania Conservancy. Fallingwater is located in Mill Run, Pa., 724.329.8501 8 Boeri Studio (Stefano Boeri, Gianandrea Barreca, Giovanni La Varra), Bosco Verticale , 2007–2014, Mailand Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/vertical-forest/ 9 Stefano Boeri Architetti, Trudo Vertical Forest , 2017–2021, Eindhoven Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/trudo-vertical-forest/ 10 Stefano Boeri Architetti, Trudo Vertical Forest , 2017–2021, Eindhoven Credits: Boeri Studio, https://www.stefano boeriarchitetti.net/en/project/trudo-vertical-forest/ 11 Ingenhoven architects, Kö-Bogen II , 2017–2020, Düsseldorf Credits: ingenhoven associates / HGEsch 12 Luciano Pia, 25 Verde , 2012/13, Turin Credits: Luciano Pia 13 Vincent Callebaut, Tao Zhu Yin Yuan/Agorá Garden , 2013–2018, Taipeh Credits: Yu tptw, https://commons.wikimedia . org /wiki/ File:Agora_Tower_20230309.jpg 14 Mass Studies, Ann Demeulemeester Shop , 2007, Seoul Credits: Yong-Kwan Kim 15 Patrick Blanc, Le mur végétal , 2012, Musée du Quai Branly, Paris Credits: Patrick Blanc 16 Patrick Blanc, Tinospora crispa an Edelstahlseilen , Le Nouvel Towers, 2016, Kuala Lumpur Credits: Patrick Blanc 17 BigRep, BANYAN Eco Wall , 2019, 2000 x 2000 x 600 mm, 4 Teile, BigRep Berliner Weisse Pur PETG, BigRep Black PRO HT Credits: BigRep. Team: Daniel Büning, BigRep CIO und NOWLAB Co-Founder Lead Designers – Mirek Claßen, Tobias Storz, Lindsay Lawson https://bigrep.com/posts/banyan-eco-wall/ 18 Friedensreich Hundertwasser, Hundertwasserhaus , 1983–1985, Löwengasse, Wien Credits: C.Stadler/Bwag; CC-BY-SA-4.0. 19 Anna Heringer, Desi Center , 2008, Rudrapur, Bangladesch Credits: Alexandra Grill I. Einführung – Topos der Urhütte Für seinen Essai sur l’Architecture (1755) wählte Marc-Antoine Laugier als Frontispiz eine allegorische Darstellung, die an die Vitruvianische Urhütte erinnert (Abb. 1)[1 ] : Die Personifikation der Architektur deutet auf vier quadratisch angeordnete Baumstämme, die durch horizontale Rundhölzer verbunden sind und eine Art Satteldach aus gegeneinandergestellten Ästen tragen. Die Grundstützen bestehen aus vier wachsenden Bäumen von gleicher Höhe, deren Baumkronen Mauerwerk ähnlich zur Dachstruktur beitragen. Scheinbar achtlos stützt sich die Personifikation auf Fragmente eines antiken Gebälks. Ihr Körper ruht auf einer umgekippten Säule; vor ihr liegen weitere, teils von Pflanzen überwucherte Bauelemente. Diese Ursprungsmythen aufrufende rurale Architektur gehört zu den prominentesten Beispielen einer bildlichen Auseinandersetzung mit der Urhütte. Mit der Allegorie Charles Eisens wird unsere Aufmerksamkeit auf diesen, dem Material und Formenrepertoire der Natur abgeleiteten Urtypus jeglicher Baukunst gerichtet, der als Grundlage vergangener und zukünftiger stilistischer Entwicklungen dient – wie die Wurzeln der Bäume fest im Fundament der Geschichte verankert. II. Die Hängenden Gärten Babylons, Baumsäulen und Tanzlinden als Vorläufer grüner Baukunst Dieser Stich zeigt die enge Verwobenheit von Natur und Architektur, d. h. Architektur als Mimesis von Naturstrukturen. In Anlehnung an meinen Vortrag auf der Tagung Kunst im Klimanotstand an der HBK Braunschweig im Dezember 2023 möchte ich in meinem Text einige Überlegungen zur grünen Architektur bzw. Hortitecture (Grüntuch-Ernst 2018) vorstellen. Dabei interessiert mich, inwiefern Pflanzen als Bauplastik, d. h. als gestalterisch gliederndes Element und Ornament, in der Architektur der Gegenwart dienen und welche historische Rückbindung relevant ist. Der Fokus liegt auf Gebäuden mit fassadengebundener Begrünung. Gefragt wird, ob der Begriff der Spolie gewinnbringend zu erweitern ist und wie sich das Verhältnis von Innen und Außen ändert, dabei zum porösen Habitat wird, erweiterte Konvivialität im Sinne eines Zusammenlebens mit nicht menschlichen Akteuren bietet. Der Topos der Urhütte ist nur ein Beispiel, das den Ursprung der Architektur aus der Natur heraus erklärt und die Baumsäule zum weitreichenden Phänomen macht. Auch das gotische Gewölbe der Kathedralen gilt von Raffaels Denkmalsbrief bis zu Sir John Soane (1752–1837) als Stil, der seinen Ursprung in verzweigten Baumkronen habe, entstanden aus ungefällten Bäumen, deren zusammengebogene Äste Spitzbogen ergaben. Chateaubriand (1768–1848) vergleicht in einer literarischen Metapher die Türme mit Bäumen und den Klang der Orgel mit dem Rauschen des Windes; Huysmans erblickt im Wald die Kathedrale und Bruno Taut (1880–1938) greift in Natur und Baukunst (1904) auf diesen Vergleich erneut zurück (Abb. 2) (Taut 1904/2007: 50–52; Weiß 2015: 162–166). Während die Vegetabilisierung am Teehaus in Sanssouci zu künstlichen, palmenartigen Stützen und am Kapitol in Washington zu Kapitellen mit den identitätsstiftenden Attributen Tabakblätter und Maispflanzen (Abb. 3) führt, vereinen die Tanzlinden als soziokulturelles und baugeschichtliches Phänomen beides: menschlich gezogene Bäume verzahnt mit einer gebauten Substruktion (Abb. 4) und Spalieren als Podest für Volksfeste. Der Baumpavillon ist von einer externen Treppe zu begehen und kann phantastische Auswüchse annehmen, wie im schlesischen Ratibor (heute Polen)[2 ]. Zu den mythischen Vorläufern grüner Architektur zählen die Hängenden Gärten Babylons, die Frank Maier-Solgk zufolge als kulturhistorischer Topos „zum Synonym von Gebäudegrün überhaupt wurde[n]“ (Maier-Solgk 2020: 167) – ein Bauwerk mit Bewässerungsanlage auf einer architektonischen Konstruktion, zugeschrieben Nebukadnezar II., ca. 570 v. Chr., oder der sagenhaften Königin Semiramis (Schweizer 2020: 29–30). Die moderne Weiterentwicklung von Flachdach und Dachgarten gelang durch technische Voraussetzungen, mit eisen- und stahlbewehrtem Beton. III. Hortitecture avant la lettre in der Moderne Le Corbusier versieht seine Unités d’Habitation mit Flachdächern und spricht sich für Dachgärten bzw. -terrassen aus, begründet dies gebäudetechnisch als Kompensation für die versiegelte Fläche und als Schutz des Eisenbetons vor schwankenden Außentemperaturen sowie sozialgesellschaftlich im Sinne einer Konvivialität der Bewohner:innen. Auch Eileen Gray stattet ihre Wohnhäuser E.1027 (1926–29) (Abb. 5) im südfranzösischen Roquebrune-Cap-Martin und Tempe a Pailla (1932–34) im benachbarten Castellar mit Dachterrassen aus, setzt sich aber in ihrer sensualistisch körperbezogenen Auffassung des Hauses als „shell of man“ von der rationalistisch-funktionalen Wohnmaschine des Neuen Bauens ab (Gray zit. n. Adam 1987: 309). Arthur Wiechula („Naturbauingenieur“) (Abb. 6) konzipiert im Berlin der 1920er-Jahre seine wachsenden Häuser aus topiarisch geformten Bäumen (Wiechula 1926/2012). Terrassenhäuser sind seit langem aus wärmeren Klimaregionen bekannt. Für Fallingwater (1935–1937) reagiert Frank Lloyd Wright (Abb. 7) auf die ortsspezifische hangartige Topografie.[ 3 ] Die freitragenden, umlaufenden Terrassen aus Stahlbeton, die Pflanzenbewuchs nur in einzelnen Beeten aufweisen, sind (inzwischen) von Baumkronen umgeben, wodurch die Verbindung von Landschaft und Baukörper unterstrichen wird. Optisch ergibt sich eine horizontale Schichtung aus den hellen Betonbrüstungen der auskragenden Terrassen – teils durchbrochen von einem Baum – auf zwei Geschossen und den rötlich-braunen Steinquadern des zentralen Kubus, unterbrochen durch große Fensterflächen. Diese buchstäbliche Verankerung des Gebäudes mit dem Boden „to grow from its site“ über Material und Topografie bezeichnet Wright als „organic“/„natural“/ „integrated“ (Wright zit. n. Reynolds 2011: 254). Dorte Mandrups parabolische Walbeobachtungsstation an der Küste Norwegens greift das auf. Das organische Design der dänischen Architektin soll in Kürze fertiggestellt werden und erhebt sich wie ein Hügel am felsigen Ufer. Das Dach ist mit Steinen bedeckt, die mit der Zeit eine Patina aufweisen, der Übergang mit Moosen gestaltet.[4 ] Bis heute werden Pflanzen an Gebäuden auch als Hindernis für die tektonische Konstruktion gewertet – bei Fallingwater das Problem der Feuchtigkeit. Doch manifestiert sich seit den letzten 20 Jahren eine neue Popularität der Gebäudebegrünung, wobei Natur als unentbehrlicher Bestandteil einer sozialgesellschaftlichen Verantwortung von Architektur in den globalen Metropolen gilt. Zu fragen ist, ob die aktuelle Wohnraum(nach)verdichtung und daraus folgende vertikale Bauweise dazu führt, dass Grünflächen wie Innenhofgarten, Terrasse oder Loggia an die Fassade oder aufs Dach wandern – zugunsten von verbessertem Mikroklima, Luftfilterung und Biodiversität. Die Fassade avanciert zur atmenden Membran und grünen Lunge. IV. Naturspolien als Authentizitätsversprechen im Bosco Verticale Das Stadtbild von Mailand prägen die beiden Apartmenttürme Bosco Verticale Stefano Boeris, Gianandrea Barrecas und Giovanni La Varras mit der Botanikerin Laura Gatti, die in dieser männlichen Riege selten explizit genannt wird (Abb. 8) (Kietzmann 2014). Gegeneinander versetzte, terrassierte Auskragungen tragen Pflanzenbewuchs – farblich im Verlauf der Jahreszeiten choreografiert. Bemerkenswert ist, dass dieses zu den Ikonen grüner Architektur gehörende Gebäudeensemble zwar vielfach diskutiert wird, der Fokus aber auf den botanischen Herausforderungen liegt, auf der Attraktion der Superlative, da jeder Turm mit ca. 7000 m2 bis 1 Hektar Wald vergleichbar sei sowie rund 730 Bäume und 20.000 Pflanzen beheimate (Kietzmann 2014). Boeri proklamiert eine „non-anthropized urban ethics“, d. h., „where humanity is no longer alone on the pedestal of life“ (Boeri 2016: 59–60). Trotz dieses posthumanistischen Anspruchs bleiben seine Gebäude menschliche Behausungen, wirken Flora und Fauna wie schmückendes Beiwerk. Bau- und materialtechnische Informationen zur Mailänder Version sind nur indirekt zugänglich, sodass sich die Frage nach der Tragfähigkeit seines Anspruchs auf Nachhaltigkeit stellt. Auf der Website von Cotto d’Este erfährt man, dass die Außenverkleidung der hinterlüfteten Fassade aus 1,4 cm dicken Keramikplatten besteht, die eigens entwickelt wurden (Blackstone ) und die aus Stahlbeton gegossenen Balkone ummanteln.[5 ] Der womöglich im Pionierprojekt noch sekundär behandelte CO2-Abdruck mag einer der Gründe sein, weshalb die Kommunikation nicht so transparent erfolgt wie beim Nachfolgebau Trudo Vertical Forest in Eindhoven (2017–2021) (Abb. 9), der beweisen soll, dass vergleichbare architektonische Konzepte für den sozialen Wohnungsbau geeignet sind.[6 ] Vorgegossene Betonplatten ermöglichten eine reduzierte Bauzeit und Kosteneinsparung. Während die Wohnungen des Bosco Verticale in Privatbesitz sind, gehört das architektonische Grün zum Baukörper und unterliegt gemeinschaftlicher Pflege. Wasserstand und Bodenqualität werden von Sensoren gemessen. Aufgrund der zunehmenden Windstärke in der Höhe sind die Bäume mit Stahlträgern gesichert (Abb. 10) – „Natur“ als Versatzstück, architektonisch in kubenartigen Behältnissen eingerahmt. Die Bäume des „vertikalen Waldes“ üben wie noch bei der Urhütte keine tragende Funktion mehr aus, sondern agieren – im übertragenen Sinne zierender Bauplastik – ähnlich als verlebendigte Baumsäulen. Auch in den Innenräumen der „Neuen Sachlichkeit“ werden „wie Skulpturen platzierte[n] singuläre[n] Pflanzen“, insbesondere die Monstera deliciosa und der Ficus elastica , an einem ihnen eigens zugestandenen Ort exponiert (Tietenberg 2023: 110). Monika Wagner bezeichnet die Implementierung von Naturstoffen im White Cube und öffentlichen Raum, isolierte, exotische Bäume wie Palme und Ficus, collageartige Grasmatten oder künstliche Wasserfälle in den Plazas von Manhattan und Einkaufsmalls als „Naturspolien“ (Wagner 1996). Sie werden wie Preziosen präsentiert zugunsten städtebaulicher „Aufmöbelung“ (gentrification ) (Wagner 1996: 27). Auch auf Hortitecture wie Boeris Bauten ließe sich meines Erachtens dieses Modell Wagners einer „De-Plazierung von Natur und ihre spolienartige Neumontage“ (Wagner 1996: 36) erweiternd übertragen. Der Entwurzelung haftet das Fremde, Ungewohnte an. Spolien dienten seit der Antike als Beutegut in Form von baulichen Fragmenten, Kunstwerken und Dekorelementen. Spolium bedeutet „Raub“, „dem Feind Abgenommenes“, das assemblageartig in einen neuen Kontext versetzt, seiner ursprünglichen „Funktionalität“ entrissen wird, bedingt durch die Translokation eine semantische Erweiterung erfährt. Wagner betont den damit verbundenen gehobenen Lifestyle, der Exklusion mit sich bringe und das Paradox einer demokratischen, frei zugänglichen Natur formuliere. Auch bei vielen grünen architektonischen Prestigeprojekten lässt sich nicht, so könnte man ergänzen, von einer realen Symbiose von Kunst und Natur sprechen, die zu einer allgemeinen Erreichbarkeit von Natur führt. Jedoch repräsentieren Spolien neben der ihnen entgegengebrachten Nobilitierung als „Aufmerksamkeitserreger“ sowie im Zuge aktueller Recycling-Ansätze eine „Ressourcenschonung“ und ein „Authentizitätsversprechen“, wie Hans-Rudolf Meier baugeschichtlich erörtert (Maier 2020: 207f., 213). Die Rückversicherung einer Ersten Natur ist in dieser (domestizierten) Dritten Natur als organische Fassadengestaltung evident. Natur scheint keiner Erklärung zu bedürfen, weil sie, ideologisch betrachtet, oftmals immer noch als ursprünglich, zugänglich und vertraut gilt. Während Wagner Mitte der 1990er-Jahre „das vermehrte Auftreten von Naturspolien“ in Form global einheitlicher Stadtbepflanzung noch „keineswegs als Indiz einer Renaturalisierung der Stadtzentren“ deutet (Wagner 2013: 134), ist 25 Jahre später ein Gegentrend lokal spezifischer Bepflanzung zu verzeichnen. Auch Boeri spricht von einer „new idea of localism“ (Boeri zit. n. Lootsma 2000: 23). Ingenhoven architects verwenden beispielsweise in ihrem Düsseldorfer Kö-Bogen II ein lokales Gewächs (Abb. 11), namentlich die Hainbuche, die als Hecke jedoch in Aluminiumträgern wächst – kein besonders nachhaltiges Material.[7 ] V. Farmscrapers und Green Walls Doch erfordern klimaresiliente Naturspolien auch die Züchtung neuer Spezies und erlauben das Auftreten landwirtschaftlicher Nutzpflanzen im Urban Gardening . Der seit der Industrialisierung beklagte Verlust intakter Flora und Fauna, der in Megacitys und kontaminierten Landschaften gipfelt, brachte einen Vertrauensverlust in die bildliche Repräsentation mit sich. Eine rein bildliche Repräsentation , wie die floral verzierte Fassade des Wiener Secessionsgebäudes, reicht nun nicht mehr, sondern verlangt die spolienartige Integration von Pflanzen als baugestalterisches Element in der Hoffnung auf Optimierungen im Raumklima. Luciano Pia vereint in seinem noch vor dem Bosco Verticale fertiggestellten Turiner 25 Verde (Abb. 12) beides: Bäume in fassadengebundenen Töpfen und Stahlträger in Baum-Optik. Vincent Callebaut wiederum konzipiert sogenannte Farmscrapers mit Wasseraufbereitungsanlagen und hausinterner Energieversorgung. Seinen Ansatz kennzeichnet eine futuristische, organisch-fluide, japanischen Animationsfilmen entlehnte Formensprache, darunter Agorá Garden (2017) in Taipeh (Abb. 13). Die 20 Stockwerke sind wie eine Doppelhelix so gedreht, dass jede Etage viel Sonnenlicht bekommt und deutlich mehr Bäume gepflanzt werden können. Die Naturspolien der balkonreichen Fassade fungieren als Urban Farming -Parzellen. Das Rendering zeigt hier die ornamentale Funktion von Pflanzen und impliziert eine eigene bildtypologische Herausforderung. Während bei den bisherigen Gebäuden die organische Fassadenstruktur durch Terrassierung, auskragende Balkone und kaskadenförmige Freiluftgärten gewährleistet wird, daher Assoziationen an klassische Bauplastik hervorruft, schmiegt sich ein grüner Wandteppich des Ann Demeulemeester Shops in Seoul (Abb. 14) eng an den Baukörper, zieht sich sogar bis ins Innere (Mass Studies 2007). Patrick Blancs Murs Végétaux (Abb. 15) charakterisieren eine vegetabile Vielfalt und können Gebäude auch nachträglich verzieren.[8 ] Neben seiner Living Facade (Nordseite) am Pariser Musée du Quai Branly (2006) arbeitete er bis 2016 mit Jean Nouvel an einem Gebäude in Kuala Lumpur (Abb. 16), dessen Fassade er mit unterschiedlichen Weinreben bekleidete. Doch als eigentlicher Erfinder der Green Wall mit Hydroponik gilt Stanley Hart White von der University of Illinois, Urbana-Champaign, der 1938 ein Patent anmeldete (vgl. Hindle 2012). Seine modularen „botanical bricks“ verstand er als gebaute, ornamentale Elemente, die kostengünstig, zügig und flexibel architektonische „Schandflecke“ kaschieren. Heute ermöglicht der 3D-Druck Fassadenelemente aus recyceltem Material als Träger künstlicher Ökosysteme mit Pflanzen- und Insektenhabitat (Abb. 17). VI. Schlussbemerkung Vegetabile Fassaden agieren wie eine schützende Mauer, die Blicke ebenso abhält wie Lärm- und Luftverschmutzung. Anstatt konturierter Stasis präsentieren diese Gebäude in ihrer Ästhetik des Transitorischen eine veränderliche, wachsende Silhouette mit jahreszeiten- und witterungsbedingter Zeitlichkeit. Ein Kritikpunkt könnte „Fassadismus“ sein, der Hundertwasser (Abb. 18) vorgeworfen wurde und das vorrangige Interesse an Oberflächengestaltung bezeichnet. Bei vielen preisgekrönten Bauten drängt sich die Frage auf, ob sie mit ihren über die Fassade verteilten Naturspolien das damit verbundene Authentizitätsversprechen und eine Nobilitierung durch ökologische Aufwertung einzuhalten vermögen. Oder verläuft dieses Versprechen eines Rückgriffs auf die Erste Natur bzw. deren transmutierte Form eher in einem illustrativen Green Washing ? Spolien dienen der Milderung des Bruchs zwischen Alt und Neu (Maier 2013: 338), sodass in der Hortitecture „Neues Bauen“ im Sinne stadtplanerischer und gebäudetechnischer Erneuerung zugunsten über den Menschen hinausgehender Konvivialität verlangt ist. Der Verlust des Vertrauens in die bildliche Repräsentation verlangt die spolienartige Integration von Pflanzen als baugestalterisches Element. Ob dies im Rückgriff auf tradierte Bautechniken, wie bei Anna Heringers Lehmbau in Rudrapur, Bangladesch (2008) (Abb. 19) oder Cynthia und John Hardys an die Urhütte erinnernden Green School aus Bambus in Bali (2008), erfolgen muss, gilt es weiter zu erforschen. Literatur Adam, Peter, 1987. Eileen Gray Architect/Designer. New York Boeri, Stefano, 2016. Towards a Forest City. In: Antony Wood, David Malott, Jingtang He (Hrsg.), Cities to Megacities: Shaping Dense Vertical Urbanism. A Collection of State-of-the-Art, Multi-Disciplinary Papers on Urban Design, Sustainable Cities, and Tall Buildings, (1), Proeceedings of the CTBUH 2016 International Conferences, Shenzhen, Guangzhou, Hong Kong, China, Council on Tall Buildings and Urban Habitat: Chicago, S. 59–66. https://global.ctbuh.org/resources/papers/download/2861-towards-a-forest-city.pdf (abgerufen am 06.01.2024) Grüntuch-Ernst, Almut / IDAS Institute for Design and Architectural Strategies (Hrsg.), 2018. The Power of Architecture and Plants. Berlin: Jovis Hindle, Richard L., 2012. A vertical garden: origins of the vegetation-bearing architectonic structure and system (1938). In: Studies in the history of gardens & designed landscapes. An International Quarterly, 32 (2), 99–110. https://escholarship.org/uc/item/62m5k813 (abgerufen am 05.01.2024) Kietzmann, Norman, 2014. Bosco Verticale gewinnt internationalen Hochhauspreis. In: G + L: Garten + Landschaft, 25.11.2014. https://www.garten-landschaft.de/bosco-verticale-gewinnt-internationalen-hochhauspreis/ (abgerufen am 06.01.2024) Laugier, Marc-Antoine, 1755. Essai sur l’Architecture. Paris: Chez Duchesne. https://www.e-rara.ch/zut/doi/10.3931/e-rara-128 (abgerufen am 27.01.2024) Lootsma, Bart, 2000. From above the tumult – under the paving stones, the beach. In: Stefano Boeri, 2G (62), 18–25 Maier, Hans-Rudolf, 2013. Rückführungen. Spolien in der zeitgenössischen Architektur. In: Stefan Altekamp, Carmen Marcks-Jakobs, Peter Seiler (Hrsg.), Perspektiven der Spolienforschung 1: Spoliierung und Transposition, S. 333 –350. Berlin: de Gruyter Maier, Hans-Rudolf, 2020. Spolien: Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur. Berlin: Jovis Maier-Solgk, Frank 2020. Von den Hängenden Gärten zur Zeitgenössischen Hortitecture. In: Stefan Schweizer (Hrsg.), Die Hängenden Gärten von Babylon: Vom Weltwunder zur grünen Architektur, S. 161–191. Berlin: Wagenbach Reynolds, John M., 2011. Falling Water: Integrated Architecture’s Modern Legacy and Sustainable Prospect. In: Lynda Waggoner (Hrsg.), Fallingwater, S. 244–259. New York: Rizzoli International Publications Schweizer, Stefan, 2020. Die Hängenden Gärten von Babylon: Vom Weltwunder zur grünen Architektur. Berlin: Wagenbach Taut, Bruno, 1904/2007. Natur und Kunst. In: Manfred Speidel (Hrsg.), Bruno Taut: Ex Oriente Lux, Die Wirklichkeit einer Idee, S. 50–52. Berlin: Gebr. Mann Verlag Tietenberg, Annette, 2023. Wo das Domestizierte und das Domestische sich begegnen: Monstera Delicisiosa und Ficus Elastica als Komponenten des Wohnens in der ‚Neuen Sachlichkeit‘. In: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hrsg.), Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens. Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne, S. 91–113. Bielefeld: transcript Wagner, Monika, 1996. Gras, Steine, Erde. Naturspolien in der zeitgenössischen Kunst. In: Museumskunde 61 (1), 26–36 Wagner, Monika, 2013. Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. 2. Auflage der broschierten Sonderausgabe. München: C.H. Beck Weiß, Heiko, 2015. Die Baumsäule in Architekturtheorie und -praxis, von Alberti bis Hans Hollein. Petersberg: Imhof Wiechula, Arthur, 1926/2012. Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend. Osnabrück: Packpapier Verlag CV Ursula Ströbele ist Professorin für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Kunst der Gegenwart an der HBK Braunschweig. 2019–2023 leitete sie das Studienzentrum zur Kunst der Moderne und Gegenwart am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Sie promovierte an der HHU Düsseldorf zu den Bildhaueraufnahmestücken der Pariser Akademie (1700–1730). 2020 wurde sie mit einer Arbeit zur skulpturalen Ästhetik des Lebendigen (Hans Haacke, Pierre Huyghe) habilitiert. Forschungsschwerpunkte: digitale, zeitbasierte Phänomene des Skulpturalen, Kunst und (queere) Ökologien, Que(e)rschnittsgeschichte der Skulptur des 20. Jahrhunderts, Infrastrukturen der Moderne. [1] Vitruv verknüpft die bei sogenannten „primitiven Völkern“ vorkommende Bauweise eines einräumigen Hauses (Tugurium) mit den Anfängen der Technik und Baukunst, denn auch die Casa Romuli des römischen Stadtgründers sei eine einfache Strohhütte gewesen (Vitruv, De Architectura, II, 1., u. a. 6–17). [2] Vgl. http://www.tanzlinde-peesten.de , https://tanzlindenmuseum.de/tanzlinde/ (abgerufen am 05.01.2024). [3] Vgl. https://fallingwater.org (abgerufen am 05.01.2024). [4] Vgl. https://dortemandrup.dk/work/whale-norway (abgerufen am 05.01.2024). [5] Vgl. https://www.cottodeste.de/projekte/vertical-forest (abgerufen 05.01.2024). [6] Vgl. https://www.stefanoboeriarchitetti.net/en/news/casa-bosco/ (abgerufen 05.01.2024). [7] Vgl. https://www.ingenhovenarchitects.com/projekte/weitere-projekte/koe-bogen-ii-duesseldorf/description (abgerufen am 05.01.2024). [8] Vgl. https://www.verticalgardenpatrickblanc.com/realisations/kuala-lumpur/le-nouvel-kuala-lumpur (abgerufen am 05.01.2024). 01 02 03 04 05 06 07 08
- Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann
Fossilis – durch Graben gewonnen Von Linn Bergmann Iss ue 6│ Antifaschismus Anker 1 Fossilis – durch Graben gewonnen Linn Bergmann Inhalt Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Ausstellungsansicht Durch Graben gewonnen , 2024 © Linn Bergmann Vor ungefähr vier Jahren wurde bekannt, dass sich im Rehburger Forst ein Waldabschnitt befindet, in dem sowjetische Gefangene im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeit verrichten mussten. Insgesamt waren dort während der Kriegsjahre mindestens 261 Kriegsgefangene untergebracht. Kurz nachdem die Existenz dieses Lagers bekannt worden war, haben sich ehrenamtliche Helfer:innen zusammengeschlossen, um die Geschichte des Lagers im Rehburger Forst aufzuarbeiten und in Form einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Rahmen dieser Aufarbeitung wurden im Forst archäologische Grabungen durchgeführt, bei denen viele Gegenstände aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden wurden. Neben aussagekräftigen Objekten wie zum Beispiel einer Kamera, Knöpfen und Schuhen waren zahlreiche andere Funde dabei, die keinen direkten archäologischen Wert haben, etwa Dachpappe, Glasscherben, Drähte und vieles mehr. Vor knapp drei Jahren wurde ich gefragt, ob ich gemeinsam mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum eine Ausstellung konzipieren möchte, um neben den wissenschaftlichen Aspekten auch der künstlerischen Aufarbeitung Raum zu geben und somit für noch mehr Sichtbarkeit zu sorgen. Anfangs hatte ich enormen Respekt vor der Verantwortung, die so eine Aufgabe mit sich bringt. Ich fragte mich, wie ich diesem großen, wichtigen Thema überhaupt gerecht werden könnte – ich als junge Künstlerin, die zunächst keine direkten Berührungspunkte mit der NS-Zeit hatte. Was gibt mir das Recht, mich laut und öffentlich künstlerisch dazu zu äußern? Meine größte Angst war – und ist es noch immer –, den Opfern dieses Lagers und ihrem Leid nicht gerecht werden zu können. Ich habe Sorge, das Thema mehr plakativ als sensibel aufgegriffen und vor allem aufgearbeitet zu haben. Ein weiterer Punkt, mit dem ich vor allem zu Beginn haderte, war der inhaltliche Kontrast zwischen der Auseinandersetzung mit dem Kriegsgefangenenlager und meiner eigentlichen künstlerischen Arbeit, die höchstens sehr subtil politisch ist und sich eher als forschend und intuitiv einordnen oder beschreiben lässt. Ich hatte Probleme, diese beiden Pole für mich zu vereinbaren, weil ich dadurch an der Authentizität meiner Arbeit im Rehburger Forst zweifelte. Bin ich wirklich die richtige Person, um dieses Thema zu bearbeiten, oder sollte nicht vielmehr jemand damit betraut werden, der oder die schon mehr Erfahrung mit politischer Kunst hat? Ein paar dieser Zweifel verflogen und mit der Zeit erkannte ich, dass die Arbeit in der Ausstellung vor allem eine große Chance war, meinen Teil zur Erinnerungskultur beizutragen, die ich heute als wichtiger denn je empfinde. Die Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe hatte zur Folge, dass ich mich mit der Zeit des Nationalsozialismus so intensiv wie nie zuvor auseinandersetzte. Ich war häufig im Wald, im Forst – dort, wo das ehemalige Lager war. Ab und an konnte ich auch bei den Ausgrabungen helfen. Für mich war es immer wieder erschütternd, dort zu sein. Der Wald und die gesamte Umgebung des Lagers sind sehr schön und idyllisch, und genau diese Idylle machte es für mich lange schwer greifbar, was sich an dieser Stelle wohl zugetragen haben mochte. Die Ruhe des Waldes und die schreckliche Geschichte dieses Ortes ließen sich für mich kaum miteinander vereinbaren. Gleichzeitig wurde mir immer klarer, was dieser Ort alles gesehen haben musste und welche Erinnerungen er in sich speichert. Der Wald ist wie ein großes, die Zeit überdauerndes Gedächtnis und bildet für mich eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Mir war es wichtig, diesen Aspekt in die Ausstellung zu integrieren, um einen direkten Bezug zwischen den Zeiten herzustellen und zu verdeutlichen, wie eng sie miteinander verbunden sind. Der Wald im ehemaligen Kriegsgefangenenlager vermittelt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Geräusche des Waldes, die ich aufgenommen habe, sind in der gesamten Ausstellung zu hören und bringen die Umgebung des Lagers akustisch in den Ausstellungsraum. Ein weiterer Aspekt meiner künstlerischen Auseinandersetzung sind die vielen Gegenstände, die im ehemaligen Lager gefunden wurden und nicht in Vitrinen gezeigt werden, die aber dennoch einen großen inhaltlichen Wert haben. Ich hatte die Möglichkeit, einen Raum mit den Funden zu bespielen, und habe aus ihnen sieben bildhauerische Arbeiten gefertigt. Es war für mich sehr eindrücklich und berührend, all die Fundstücke in meinen Händen zu halten und dadurch eine haptische Erfahrung mit dem Ort und seiner Geschichte zu gewinnen. Während ich die Arbeiten konzipierte, musste ich mir immer wieder vor Augen führen, was ich in den Händen hielt, vor allem, wenn es Fragmente von Waffen waren, wie die Überreste von Kartuschen für Granaten oder Patronenhülsen. Es war stets ein sehr befremdliches Gefühl, diese Dinge, die mir so fern sind, zu berühren. Das konfrontierte mich unausweichlich mit der Vergangenheit Deutschlands, für die ich keine Worte finde – und doch wären sie notwendig, um mit dieser Vergangenheit adäquat umzugehen. Mit den bildhauerischen Arbeiten hadere ich am meisten. Es war für mich sehr schwierig, eine passende Herangehensweise zu den Objekten zu finden. Wie kann man künstlerisch und skulptural Gegenstände aus der NS-Zeit so präsentieren, dass es durchdacht, aber nicht plakativ und oberflächlich ist? Wie kann man Militaria zeigen, ohne sie zu ästhetisieren? Auf diese Fragen habe ich weiterhin keine klaren Antworten parat und es fällt mir schwer zu entscheiden, ob ich eine gute oder eine eher problematische Form des Umgangs mit den Funden gewählt habe. Ich habe die Skulpturen weitestgehend nüchtern und schlicht gehalten und nur das Nötigste hinzugefügt. Dennoch würde ich sie als ästhetisch bezeichnen und ich frage mich, ob das im Kontrast zu einer respektvollen Auseinandersetzung mit dem Lager und mit der NS-Zeit steht. Gleichzeitig kann eine andere Form der Präsentation der Funde als eine wissenschaftliche, beispielsweise in Form von künstlerischen Arbeiten, neue Aspekte in der Betrachtung und der Sichtbarkeit erzielen. Und darum geht es im Grunde: eine Zeit wieder sichtbar werden zu lassen, die in Vergessenheit zu geraten droht. Dies gilt auch für die dritte künstlerische Arbeit der Ausstellung. Im Zentrum des gesamten Ausstellungsraumes wird ein zwölf Meter langes Leinentuch präsentiert, auf dem im Kollektiv die Namen der 261 bekannten Opfer des Kriegsgefangenenlagers im Rehburger Forst gestickt wurden. Anfang 2024 öffneten wir dafür einen Raum, in dem jede:r willkommen war, sich am Besticken des Tuches zu beteiligen. Es war ein Versuch, die Vergangenheit wieder etwas näher an die Gegenwart zu rücken, und somit ein Zeichen gegen das Vergessen. Diese 261 Namen stehen in erster Linie für sich selbst, aber auch für die vielen Menschen, die ihr Leben im Zweiten Weltkrieg während der nationalsozialistischen Diktatur verloren haben und die niemals vergessen werden dürfen. Für diese Arbeit war es von großer Bedeutung, dass das Besticken des Lakens öffentlich erfolgte. Es ist wichtig, dass alle Menschen in Deutschland ihre Verantwortung in Bezug auf den Umgang mit der Vergangenheit erkennen und sich so, wie es ihnen möglich ist, an der Erinnerungskultur beteiligen. Dafür steht auch dieses Laken. Die kollektive Arbeit war für mich eine ganz neue Erfahrung und es hat mich sehr gefreut, dass es viele verschiedene Menschen gab, die sich an dem großen Vorhaben beteiligen wollten. Es war eine neue Art der Annäherung an die internierten Kriegsgefangenen: Bei jedem Namen, den ich stickte, überlegte ich, wie der Mensch, der hinter diesem Namen steht, wohl gewesen war, wer er vor dem Krieg war und was mit ihm geschah – eine unweigerliche Folge der langwierigen Arbeit des Stickens. Ich denke, dass es ein wichtiger Aspekt einer guten Erinnerungskultur ist, sich auch den Einzelfällen zu widmen und zu erkennen, dass hinter all den Zahlen und Fakten schließlich Menschen stehen. Dieses Laken ist für mich somit auch ein Symbol für Menschlichkeit und Empathie. In meiner Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum habe ich sehr viel über die deutsche Geschichte gelernt, die immer noch so eng mit der Gegenwart verbunden ist. Mehr denn je wurde mir bewusst, wie tiefgreifend die Spuren sind, die die Diktatur des Nationalsozialismus auf allen Ebenen der Gesellschaft hinterlassen hat. Ich durfte die Funde in meinen eigenen Händen halten, jeden einzelnen Namen derer lesen und schreiben, die Opfer dieses Lagers im Forst waren. Dadurch erhielt ich die Möglichkeit, ihnen und ihrer Zeit näherzukommen, und das empfinde ich als großes Privileg. Ich dachte auch viel über die ehrenamtliche Arbeit meiner Kolleg:innen nach. Die Menschen, mit denen ich die Ausstellung gemeinsam konzipierte, sind großteils zwischen 60 und 70 Jahre alt; somit war ich die jüngste Person in dieser Gruppe. Es war für mich eine sehr bereichernde Erfahrung, an so einem generationenübergreifenden Projekt mitwirken zu können, doch sie warf auch Fragen auf: Wieso war ich als einzige Person aus meiner Altersgruppe an dieser Ausstellung beteiligt? Wo verorten sich junge Menschen in Bezug auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus? Die Erinnerungen an diese Zeit scheinen von Generation zu Generation immer mehr zu verwässern und ich kenne kaum Personen in meinem Alter, die sich noch aktiv mit dieser Zeit beschäftigen. Natürlich sind viele Menschen politisch aktiv und setzen sich gegen diskriminierende Strukturen jeglicher Art in unserer Gesellschaft ein. Meine Generation ist durchaus politisch. Doch manchmal scheint die Betrachtung der Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart an Relevanz zu verlieren, was teilweise auch verständlich ist. Die vielen Krisen unserer Zeit verlangen uns unsere ganze Aufmerksamkeit ab und lassen es deshalb kaum zu, sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Allerdings sind diese beiden Zeiten so eng miteinander verbunden, dass es kaum möglich ist, sie getrennt voneinander zu betrachten. Wir haben als letzte Generation noch die Möglichkeit, mit Zeitzeug:innen zu sprechen und von ihnen zu lernen. Meine Altersgruppe trägt dadurch maßgeblich die Verantwortung mit, wie wir in Deutschland weiterhin mit den kostbaren Erinnerungen der vorherigen Generationen umgehen: Ob wir sie vergessen oder ob wir sie sicher verwahren, um immer und immer wieder zu erinnern, dass sich die Geschichte auf keinen Fall wiederholen darf. Wenn ich hier über die Zeit des Nationalsozialismus spreche, komme ich nicht umhin, sie mit der Gegenwart in Kontext zu setzen. Ein globaler Rechtsruck ist nicht mehr zu leugnen. Die erneute Wahl Donald Trumps, der erschreckende Aufschwung der AfD, die illiberale, rechte Regierung Ungarns im Herzen Europas sind nur ein paar Beispiele, die ich hier anführen kann. Die Liste ist bedeutend länger, und je umfangreicher sie wird, desto unbegreiflicher ist es für mich, wie es dazu kommen konnte. Wie kann es sein, dass in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, eine rechtsextreme Partei eine derartige Zustimmung erfährt? Ausgerechnet in Deutschland? Die Zeit des Nationalsozialismus darf nicht in Vergessenheit geraten und es liegt in der Verantwortung einer jeden Person in unserem Land sich dafür einzusetzen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Gruppen wie der des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum, die sich ehrenamtlich und auf vielen Ebenen für eine gute Erinnerungskultur und eine bessere Gesellschaft engagieren. Ihre Arbeit schenkt mir Mut und Zuversicht und lässt mich daran glauben, dass es hier viele Menschen gibt, die sich gegen diskriminierende Strukturen in unserer Gesellschaft einsetzen. Sie machen mir Hoffnung für unsere Zukunft. Linn Bergmann , aufgewachsen in Berlin, studiert Freie Kunst an der HBK Braunschweig in der Fachklasse für Bildhauerei bei Thomas Rentmeister. Mit einem suchenden Blick erforscht sie die Zusammenhänge unserer Gesellschaft und Umwelt. In ihrer Einzelausstellung “Fossilis - Durch Graben gewonnen” nähert sie sich künstlerisch der Zeit des Nationalsozialismus an, wobei die Erinnerungskultur ein zentrales Thema ist. 01
- Issue 3 Thinking outside the White Cube | appropriate
Thinking outside the White Cube – eine performative Annäherung an den Stadtraum Issue 3 │ Vermittlung Anker 1 Thinking outside the White Cube – eine performative Annäherung an den Stadtraum Dani-Lou Voigt Inhalt Intervention an den Ricklinger Kiesteichen Fotos: (c) Tammo Kunnert "Ein großes Ganzes erschafft die Illusion eines aufgewühlten Innern, wobei die Bewegung nur auf der Oberfläche stattfindet. Mit jedem Schritt ergeben sich räumliche Grenzen, die durch wandelbare Materialität und Poesie aufgelöst und neu zusammengesetzt werden." Roni Horn, Künstlerin, Ausstellung Foundation Beyeler 2016/17 Fotos: (c) Tammo Kunnert Der folgende Bericht zeigt einen Versuch, Kunstvermittlungsformate außerhalb des White-Cubes als Ausstellungsort zu denken und vom geschlossenen Innenraum loszulösen. Mit Brian O’Dohertys Theorie im Hinterkopf, die ein Kunsterlebnis der zeitgenössischen Moderne umschreibt, das Betrachtende und ihre Position im Raum ins Zentrum der Kunstwahrnehmung rückt, werden die Gegebenheiten der sogenannten Weißen Zelle hinterfragt (vgl. Kemp 1996). So kann dies als Installation, Intervention oder performative Annäherung an den Stadtraum, der einen Ausgangspunkt für grenzenlose Kunst bildet, stattfinden. Wanderausstellung – [eine] Ausstellung, die in verschiedenen Städten gezeigt wird. (Dudenredaktion o.J.) Das Format der Wanderausstellung besteht aus einer künstlerischen Intervention im Stadtraum, bei der Passant:innen entlang der Grundrisse eines Kunstmuseums gehen – oder eben wandern – und Kunst körperlich erfahren sowie ihr räumlich näherkommen können. Dabei sind die Kunstwerke nicht an dem Standort der Intervention im Stadtraum visuell präsent, sondern im Gegenteil: Die Passant:innen erschließen sich den Inhalt durch ein im öffentlichen Raum aufgebrachtes Medium, das nur eine räumliche Referenz schafft, über die die Passant:innen Kunst erleben können. Die Kunstwerke sollen durch die Vorstellungskraft der Beteiligten im realen Raum erfahrbar gemacht werden, um so ein eigenständiges Kunsterlebnis außerhalb des geschlossenen Kunstraumes und Kunstkontextes zu ermöglichen. Gleichzeitig soll die Intervention das eventuelle Interesse an Kunst und an einem Ausstellungsbesuch bei den Besuchenden anregen. Die Herausforderung bei diesem Format ist die Kommunikationskraft des ausgewählten Mediums, das an den jeweiligen Standorten aufgebracht werden soll. Sie ist von Form, Farbe, Materialität und Inszenierungsort abhängig. So soll das aufgebrachte Medium als Informationsträger dienen, der auf existierende Kunst und Kunsträume hinweist, aber nicht selbst als ein solches Gestaltungsmittel erscheinen. Bekannte Informationsträger sind zum Beispiel Flyer, Plakate, Broschüren und Kataloge, die zu einer Ausstellung ausgelegt und zusätzlich auch online zur Verfügung gestellt werden. Bei der Vorbereitung auf die Wanderausstellung entwickelten sich zwei separate Formate. Einerseits soll eine räumliche Referenz mithilfe von zwei Raumebenen erzeugt werden, die übereinander gelegt ein körperlich erfahrbares Größenverhältnis erzeugen und im Stadtraum einen Hinweis auf eine co-existierende Räumlichkeit hinterlassen. Andererseits soll auf den Inhalt der Ausstellung, also auf in Räumen ausgestellte Kunstwerke, eingegangen werden. So war im Nachhinein die künstlerische Umsetzung als Intervention oder eben hier als Performance präsent. Sie diente weniger der Vermittlung von Kunstwerken, die in ihr zitiert wurden, sondern erschuf ein eigenständiges Kunsterlebnis im urbanen Raum. Von Seerosen- und Kiesteichen Mit der Wanderausstellung werden die Besuchenden eingeladen, einen Blick in die L’Orangerie in Paris zu werfen. Diese ist für ihre Kunstsammlung im Haus bekannt. Dort gibt es einen Raum, der eigens für und mit dem Künstler Claude Monet kurz nach dem Ersten Weltkrieg erbaut wurde (vgl. Debray 2021). Ein Raum, der seine Form erst durch die malerische Komposition einzelner Kunstwerke erhält, ist für die erste städtische Intervention ein wichtiger Bezugspunkt. Der Einfluss von Kunst auf die Architektur erschafft einen Bedeutungsraum, der darüber hinaus Kunstwerke wie auch Künstler:innen mit dem jeweiligen (Stand-)Ort auf Ewigkeit verbindet. Im Gegensatz dazu steht der weiße Ausstellungsraum, der der Kunst ein Umfeld ohne Störfaktoren bietet und in dem Kunstwerke beliebig ausgetauscht werden können. Dies muss aber keine Bedingung dafür sein, dass Kunst sichtbar gemacht wird. Die Wanderausstellung untersucht, was passiert, wenn das Kunstwerk erst durch die Bedeutung und Gestaltung des Raumes existiert. Die Ricklinger Kiesteiche, die ein beliebter Spazier- und somit auch ein Erholungsort in der hannoverschen Umgebung sind, verfügen über ähnliche bildliche Merkmale wie in Monets „Seerosen“-Arbeiten dargestellt. Die Umgebung ist eine grüne Oase der Verwilderung mit städtischem Charme: Viel Verkehr an angenehm warmen Tagen oder Verwahrlosung in Form von Müllansammlungen sind Folgen des erstgenannten Merkmals. Aber man könnte dies auch als eine realistische Interpretation und Verbildlichung der Motive aus Monets „Seerosen“-Reihe ansehen. Wie bei einem Besuch in der L’Orangerie in Paris eröffnet sich den Besuchenden bei den Ricklinger Kiesteichen ein Panoramablick der Natur mit Lichteinflüssen und Wasserreflexionen. Auf fast hundert Metern Leinwand hielt der französische Künstler die natürlichen Bewegungsabläufe eines Tages für Nichtanwesende und Nachkommende fest (vgl. Debray 2021). Als Motiv dienten ihm Seerosen auf einem Teich, die von Bäumen und Pflanzen umgeben sind. Dieses Kontinuum an Zeit und Raum ist nicht nur im Motiv auf den einzelnen Leinwänden festgehalten, sondern auch in der Form und Anordnung der Räume des Museums wiederzukennen. Die kurzweilige Intervention an den Ricklinger Kiesteichen war für den Zeitraum eines Nachmittages ausgelegt. Für das Format der Wanderausstellung ist es wichtig, an einem Ort zu intervenieren, der als Knotenpunkt dient. Das heißt, dass es ein Ort mit höherem Verkehrsaufkommen ist oder dass er als Kreuzung einen möglichen Richtungs- und Ortswechsel anbietet. Darüber hinaus sollte die Voraussetzung erfüllt werden, dass Besuchende ihre Umwelt an einem solchen Punkt genauer wahrnehmen können. Dieser bestimmte Ort präsentiert sich den Parkbesuchenden auf einer Liegewiese vor dem sogenannten Dreiecksteich. Die räumliche Referenz, die nun vor Ort zu den Ausstellungsräumen in Paris gesetzt wird, findet in Form eines aufgetragenen Grundrisses statt, der die Form eines Ovals hat und vom Ausmaß der Oberflächengröße aller in der L’Orangerie ausgestellten Arbeiten Monets entspricht. Durch das Verwenden einer Stoffbahn, die sich nicht nur farblich durch ein klares Weiß, sondern auch durch die Materialität des Stoffes von der Umgebung abhebt, stellt sich den Vorbeigehenden eine nicht zu übersehende Installation dar. Das Stoffoval erscheint in Anlehnung an das Original in östlicher und westlicher Himmelsrichtung, was dem Sonnenverlauf und somit einer möglichen Wanderroute entlang des Grundrisses gleichkommt (vgl. Debray 2021). Das Verhalten des Stoffes auf der unebenen Oberfläche des Rasens, die gleichzeitige Fragilität der weißen Farbe und die Bewegung des Stoffes erinnern an den Bewegungsfluss von Wasser. Diese gegenständliche Brücke, die zum Inhalt der Bildmotive in den „Seerosen“-Gemälden und gleichzeitig zum tatsächlichen Ereignisort der Intervention aufgebaut wird, ist Form der künstlerischen Vermittlung. Sie initiiert einen ersten Ansatz für eine thematische Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk außerhalb seiner Räumlichkeit. Die Entscheidung, kein weiteres Informationsmaterial bei der Intervention zur Verfügung zu stellen, unterstreicht die künstlerische Arbeitsweise in dieser Installation. Das Medium soll die nötigen Informationen selbstständig übermitteln. Diesbezüglich kann im Zusammenhang mit der Arbeit an den Ricklinger Kiesteichen festgestellt werden, dass der – hiermit gezielt vermittelnde – Ansatz nicht ausreichend für die Übermittlung der Bildinhalte Monets und des Standorts in Paris ist und somit unabhängig von den Kunstwerken Monets betrachtet werden kann. So beobachtete ich während meiner Dokumentation, dass viele Menschen die Intervention sahen und sich ihr physisch näherten, doch nur wenige sahen mich in Bezug zur Intervention und sprachen mich aus Interesse auf die Hintergründe an. Schlussendlich sind die realen Umstände vor Ort, der Verkehr, die Geräuschkulisse, die Mitmenschen und das Wetter, die alle mit dem Kunstwerk in Verbindung treten, ein ausreichendes Kunsterlebnis für Besuchende des Stadtraumes. Zum einen wird die Auseinandersetzung mit Raum, dem eigenen Standpunkt im öffentlichen Raum, der von der Intervention „gestört“ wird, und zum anderen mit dem (Kunst-)Raum, der durch das geschlossene Oval auf den Stadtraum projiziert wird, selbstständig vollzogen. Ein Wort-Parcours Als Weiterführung des Formates der Wanderausstellung werden die Grenzen und somit die Definition des nächsten Kunstraumes weiter festgelegt, indem bewusst Worte gewählt und inszeniert werden. Auch bei dieser Intervention im Stadtraum liegt der Fokus darauf, Passant:innen in einen anderen Raum zu versetzen. Dieser wird hier durch Worte, die im Lesefluss Sätze ergeben und so den Grundriss eines Kunstraumes formen sowie über die darin ausgestellte Kunst berichten, dargestellt. In Anlehnung an Informationstexte, wie sie in Begleitheften für Ausstellungen erscheinen, entstand dieser Wort-Parcours. Die als Grundlage für das Kunsterlebnis ausgewählte Ausstellung stammt von der Künstlerin Roni Horn und ist in der Foundation Beyeler zu sehen. Sie greift die bildliche Thematik von Monets „Seerosen“ und den Ort der Ricklinger Kiesteiche erneut auf. Die entscheidende Arbeit der Künstlerin als Verknüpfungspunkt ist eine 48-teilige Décollage mit dem Titel „Th Rose Prblm“. Hierbei erschafft sie aus der Verarbeitung von Arbeiten mit anderer Autor:innenschaft ein eigenes poetisches Werk mit der Rose als Mittelpunkt (vgl. Bungarzt/Jimborean/Schohe 2016: 6). Darüber hinaus greift Horn die Elemente des Wassers in einer Fotoserie über die Themse und in einer Installation aus mehreren Glasskulpturen auf, die beide mit der Spiegelung und Bewegung von Wasser agieren (vgl. Glauner 2016: 337). Über mehrere Räume hinweg erschafft Roni Horn, auch Name der Ausstellung 2016/17, eine begehbare Installation aus einzelnen Arbeiten und vereint Gegensätze in einer großen Ausstellung (vgl. Gmür 2016). Die erzählerische Wirkung ihrer Arbeiten sowie die eindrücklichen Ausstellungsräume gehen mit der Architektur des Museums und seinem Umfeld, einer hübsch angelegten Parkanlage mit Teichen, einen Dialog ein und fordern Besuchende dazu auf, Teil des Bewegungsflusses zu werden. Diese räumliche Auflösung von Grenzen, von Innen- und Außenräumen, erscheint auch in der Intervention, die beim Ihme-Zentrum im hannoverschen Stadtteil Linden auftaucht. So ist die Verortung der Installation am Ufer der Ihme ein bewusstes Gestaltungsmittel, das auch einen Bezug zum wörtlich formulierten Inhalt der Wanderausstellung hat. Durch die Verwendung von Begriffen, wie Illusion, Schritt und Bewegung, werden die Eingrenzung eines Raumes sowie eine Sichtweise auf die Kunstwerke Horns vermittelt. Vom Wort als Vermittlungsform ausgehend wird es als Leitfaden für eine Raumbegehung eingesetzt, die eine selbstständige Wahrnehmung sowie Verarbeitung des Umfeldes ermöglicht. Das Umfeld wird als ein Verkehrsweg von einem Ufer zum anderen wahrgenommen. Um auf diesen Verkehrsfluss einzugehen und zum Teilnehmen anzuregen, wird der (Satz-)Anfang am Durchgang des Zentrums und das (Satz-)Ende am Brückenanfang platziert, sodass Passant:innen nicht umhinkönnen, um das Kunstwerk herumzugehen und es wahrzunehmen. Beide Interventionen sind nach dem Aufbau sich selbst überlassen worden und gleichzeitig auch nur ein kurzweiliger Eingriff in das Stadtbild. Die körperliche und gedankliche Anteilnahme am Kunsterlebnis ist jedem Individuum selbst überlassen und dementsprechend davon geprägt, da sie als agierende Personen das Format der Wanderausstellung eröffnen. Die performative Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk wird vom Eingreifen der Performer:innen begleitet. So sorgt das gleichzeitige künstlerische Gestalten des Stadtraums (damit gemeint ist der Aufbau der Wanderausstellung) für Aufmerksamkeit, was die ein oder andere Person dazu verleitet, Fragen zu stellen. Um aber zu dem Moment des Austausches zu kommen, muss so in den Stadtraum und die herrschenden Strukturen eingegriffen werden, dass die Intervention als Kunstwerk im reizüberfluteten Umfeld der Stadt auffällt. Das heißt, dass ein größenwahnsinniges Denken von künstlerischer Seite aus und als intervenierende Person etabliert werden muss, da der Stadtraum von unausgesprochenen äußeren Bestimmungen geprägt ist, die durch regelkonformes und nutzungsorientiertes Verhalten der anonymen Stadtgesellschaft kultiviert werden. Als intervenierende:r Künstler:in sind die Fremdeinwirkung der Stadt und das Verhalten der anderen Städter:innen nicht zu beeinflussen, jedoch aber das Umfeld und der Raum, in dem sie sich aufhalten und bewegen. So entsteht durch die Wanderausstellung ein räumlicher Durchbruch, der die Passant:innen im Stadtraum dazu anregt, um das Kunstwerk zu gehen und sich mit der Kunst auseinanderzusetzen. Die Gestalt des Kunstwerkes muss als ein Ganzes im Stadtraum erscheinen, um sich von seinem Umfeld zu lösen. Damit wird wiederholt die Form des geschlossenen Raumes aufgegriffen, die zu Zeiten einer globalen Pandemie (Zeitpunkt: März 2021) sehr präsent ist, da private und öffentliche Innenräume sowie ihre Gestaltung und das Geschehen in ihnen für die Öffentlichkeit teils nicht sichtbar sind. Die Intervention ermöglicht der Kunst, trotz der Restriktionen und Maßnahmen erneut im öffentlichen Raum zu erscheinen und sich sozusagen wieder zu öffnen. Dani-Lou Voigt bewegt sich zwischen der freien und vermittelnden Kunst, wobei der Stadtraum als Projektionsfläche ihrer künstlerischen Arbeiten dient. Während der ersten Monate der globalen Pandemie entwickelte sie zu dem Format der Wanderausstellung weitere Kunstvermittlungsangebote im öffentlichen Raum, um räumliche und gedankliche Grenzen umzudenken und neu zu definieren. Literatur Bungartz, Regine/Jimborean, Iona/Schrohe, Rahel, 2016. Roni Horn und Sammlung Beyeler. Riehen/Basel: Foundation Beyeler Debray, Cécile, 2021. History of the water lilies cycle. In: Musee Orangerie. https://www.musee-orangerie.fr/en/article/history-water-lilies-cycle (Zugriff: 29.03.2021) Dudenredaktion (o.J.). "Wanderausstellung" auf Duden online. https://www.duden.de/node/201923/revision/427645 . (Zugriff: 07.06.22) Glauner, Max, 2016. Riehen bei Basel. RONI HORN. Jenseits von Gut und Böse. Köln: Kunstforum International Band 243 Gmür, Susanne, 2016. RONI HORN. In: Foundation Beyeler. https://www.fondationbeyeler.ch/fileadmin/user:upload/Ausstellungen/Vergangene:Ausstellungen/Roni:Horn/flip-book-roni:horn.pdf (Zugriff: 04.04.2021) Kemp, Wolfgang (Hrsg.),1996. O’Doherty, Brian. In der weißen Zelle. Inside the White Cube. Berlin: Merke Verlag 1